Azimut-Notizen

Azimut-Notizen

Probleme der Kirchenorientierung

(Vorläufige Notizen - muß noch weiter bearbeitet werden. Abbildungen nachtragen)

Orientierung verschiedener mittelalterlicher Kirchen im südlichen Wiener Becken (Raum Baden b. Wien bis Neunkirchen) nach Vermessung von E. Reidinger (Quelle: E. Reidinger, Planung oder Zufall - Wiener Neustadt 1192, Wiener Neustadt 1995, Abb. 7.129).

Es besteht zwar allgemein die Tendenz zur Orientierung nach Ost innerhalb der Azimut-Grenzen zwischen Sommer- und Wintersonnenwende, allerdings gibt es auch Kirchen, die ohne ersichtlichen Grund (Gelände, Vorgängerbau etc.) sogar außerhalb der möglichen Sonnenaufgangspunkte liegen.

 



Grün: Winter- bzw. Sommersonnenwende Rot: Tag- und Nachtgleiche (© 2003 Dr. R. Koch, Wien)

Das Diagramm gibt die Azimute ("Sonnenaufgangspunkte" am Horizont) für Wien während des Jahres 2003 an. Die Kurve zeigt, daß um die Sonnenwenden sich der Aufgangspunkt der Sonne am Horizont pro Tag nur sehr wenig ändert, während die Änderung zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen am größten ist.

Zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche verschiebt sich der Aufgangspunkt pro Tag um rund 1 Grad, während zur Zeit der Sonnenwenden für eine Verschiebung des Aufgangspunktes um 1 Grad fast 3 Wochen vergehen. Letzteres heißt aber, daß Bauten, welche ca. eineinhalb Wochen vor oder nach den Sonnenwenden nach dem Aufgangspunkt der Sonne am Horizont orientiert wurden, bis auf 1 Grad genau die gleiche Orientierung aufweisen, sofern sie geographisch annähernd am selben Ort und im selben Jahr errichtet wurden. Anders ausgedrückt: die Berechnung des Aufgangstages für die Zeit um die Sommersonnenwenden können bei einer reproduzierbaren Baugenauigkeit von 1 Grad um bis zu 21 Tage falsch sein. Dazu kommt noch das Problem der natürlichen Horizonte:



Sonnenbahn über dem Horizont von Wiener Neustadt am 16. 5. 1193 (= Pfingsten 1193) mit Angabe der Achse der spätromanischen Choranlage des Domes von Wr.Neustadt. Vermessung, astronom. Berechnung und Grafik von E. Reidinger (Quelle: E. Reidinger, Planung oder Zufall - Wiener Neustadt 1192, Wiener Neustadt 1995, Abb. 7.138)

Nimmt man an, daß die Kirchenachse durch direkte Beobachtung des Sonnenaufgangs bestimmt wurde, muß der natürliche Horizont berücksichtigt werden, wie nebenstehendes Diagramm zeigt. Die Abweichung kann hier je nach Gelände mehr als 1 Grad betragen. Das Ergebnis wird dabei umso kritischer, umso näher der hypothetische Orientierungstag bei den beiden Sonnenwenden liegt.

 

Veränderung der Azimute in Abhängigkeit von der Höhe des natürlichen Horizonts im Laufe eines Jahres für Wien (© 2003 Dr. R. Koch, Wien).

Zusammen mit dem obigen Diagramm der Azimute im Laufe des Jahres 2003 für Wien kann ermessen werden, daß sich je nach Jahreszeit und Höhe der Umgebung (=nat. Horizont) Abweichungen von umgerechnet mehrerern Tagen für die Orientierung ergeben können.
 

 



Grundriß der Pfarrkirche von Spitz d. d. Donau, NÖ.

Achsknick zwischen Langhaus und Chor 22 Grad! (Schenkung des Gebietes 830 durch Ludwig d. Deutschen an das bayrische Kloster Niederaltaich; Capelle [sic]St. Mauritii 865; Patrozinium unverändert.)

Der Achsknick ist sicher nicht durch einen Patroziniumswechsel bedingt; die Orientierung des Langhauses ergibt mit dem Patrozinium ebenfalls keinen Zusammenhang (Unter- suchungen von P. Achinger- Rosenberger)


Vitruv und die Orientierung mit dem indischen Kreis


Vitruv 1. Buch, Kap. 6: Die Ausrichtung der Straßenzüge mit Rücksicht auf die Winde, 6 - 7

Übersetzung nach C. Fensterbusch

Prinzip des indischen Kreises

6. Man lege in der Mitte der Stadt eine marmorne glatte Scheibe waagerecht hin oder mache nach Richtscheit und Wasserwaage eine Stelle so glatt, daß eine glatte Scheibe nicht erforderlich ist, und im Mittelpunkt dieser Stelle stelle man einen bronzenen Stab (Gnomon) als Aufspürer des Schattens (griechisch heißt diese Vorrichtung Skiotheres) senkrecht auf. Ungerahr um die fünfte Vormittagsstunde ist der äußerste Punkt des Schattens dieses Stabes festzustellen und mit einem Punkt zu markieren. Dann muß man, nachdem der Zirkel (vom Mittelpunkt der Scheibe) bis zu dem Punkt, der die Schattenlänge des Stabes
markiert, auseinandergezogen ist, (mit dieser Entfernung als Radius) um den Mittelpunkt einen Kreis schlagen. Ebenso muß der nachmittäglich wachsende Schatten dieses Gnomon beobachtet werden und, wenn er die Kreislinie berührt und einen nachmittäglichen Schatten wirft, der gleich lang ist wie der vormittägliche, muß (das Schattenende) mit einem Punkt markiert werden.


7. Von diesen beiden Punkten muß mit dem Zirkel ein kreuzweiser Durchschnitt beschrieben und durch den Durchschnitt der Kreisbögen und
den Kreismittelpunkt eine Linie gezogen werden bis zum äußersten, damit man die Mittagslinie (Südrichtung) und die Nordrichtung bekommt.

Kirchenostung mit dem Kompaß


Der kurpfälzische Hofbaumeister Lorenz Lechler beschreibt 1518 in seinen Unterweisungen und Lehrungen für seinen Sohn Moritz, wie man an einen bereits bestehenden (!) Kirchenbau die Achse des neu zu errichtenden Chorbaus orientieren kann:

" ... so nimb ein Khumbast (Kompaß), setz den auf ein winckelmaß, vnd laß den magnad (Magnet) auf die mitdaglinie (Mittaglinie) stehn, vnd nimb den die Zwerglinien (zwerg oder zwerch= quer), die gegen den aufgang stehn vnd
schlag Pfel nach einer schnuer ..."

Lorenz Lechler, L.: Unterweisungen und Lehrungen für seinen Sohn Moritz: Handschrift 1516. A. Reichensperger Hsg.) in: Vermischte Schriften über christliche Kunst. – Leipzig, 1856. – S.133–167. Hier: S. 139. Zitat nach D.(ietrich) Conrad, Kirchenbau im Mittelalter. Bauplanung und Bauausführung im Mittelalter, 3. Aufl. Leipzig 1998, S. 129. (Die Originalausgabe Lechlers bzw. Reichersperger sind mir im Moment nicht zugänglich).

Lechler war das Phänomen der Mißweisung unbekannt oder erschien ihm nicht erwähnenswert, obwohl die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Schiffsnavigation zumindest im 15. Jh. schon bekannt waren. Indirekt geht dies aus Befunden auf tragbaren Nürnberger und Augsburger Sonnenuhren ab dem 2.V.15. Jh. hervor, die neben dem Kompaß Marken für die lokale Nadelablenkungen aufweisen. Auch auf deutschen Karten sollen solche Vermerke sein (Etzlaub, Waldseemüller, Ziegler, Murer - ungepr. Hinweis!). Man nahm jedoch anscheinend an, daß diese Abweichungen lokale Konstanten seien. Erst Henry Gellibrand ( * 1597, London, † 1636 ebenda) konnte in seinem 1635 publizierten Werk "A discourse mathematical on the variation of the magnetical needle, together with its admirable diminution lately discovered" den Nachweis der zeitlichen Variation der Deklination (Säkularvariation) nachweisen. Interessant ist dabei seine Meßvorrichtung: ein Kompaß in Kombination mit einem Schattenzeiger, der beim kürzesten Mittagsschatten die wahre Nordrichtung angab. Es ist quasi die Kombination aus indischen Kreis und Kompaß.

Die Säkularvariation beträgt rund 1 Grad in 5 Jahren, ihre Richtung ist allerdings nicht über einen größeren Zeitraum berechenbar, wie etwa ein Diagramm der örtlichen Mißweisung für Norddeutschland (Wingst) zwischen 1938 und 2000 zeigt:


Diagramm 1: Deklinationsschwankungen 1939 - 2000. Jahresmittelwerte für Wingst

Eine gewisse Vorstellung vom Ausmaß der Schwankungen der Deklination für Deutschland vom Frühmittelalter bis um 1800 gibt diese Grafik:



Diagramm 2

Man erkennt, daß während des Mittelalters die Mißweisung für Deutschland zwischen rund 18 Grad Ost bis ca. 6 Grad West lag. Die Verwendung des Kompaß mit Pinne - und nur mit solchen kann orientiert werden - ist schriftquellenmäßig erst für das ausgehende 12. Jh. gesichert (Alexander Neckam „De utensilibus“, 1187; Petrus Peregrinus de Maricourt „Epistola de magnete“, 1269). Im 13. Jh. verwendet man den Kompaß in Italien und um 15. Jh. auch nördlich der Alpen im Markscheidewesen (z. B. Silberbergbau in Schwaz/Tirol).

Wenn Durandus hingegen im 13. Jahrhundert noch annimmt, die Kirchen wären nach der Sonne an den Äquinoktien orientiert - den Kompaß also ignoriert -, dann ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß die von Lechler vorgeschlagene Orientierung mit dem Kompaß nicht lange tradierter Usus war, sondern eher eine Idee des 15. und 16. Jahrhunderts. Die zu erwartenden Deklinationsschankungen für Deutschland wären somit auf die Zeit der Spätgotik im 14. - 16. Jh. einzuschränken. Obiges Diagramm gibt dann rund +/- 5 Grad Deklination an. Das bedeutet aber, daß Kirchen, deren Achsenabweichung mehr als 5 Grad Ost bzw. 5 Grad West beträgt, nicht mit dem Kompaß orientiert sein können.

Die meisten der Kirchen, die um Baden b. W. bzw. Wiener Neustadt liegen (siehe Diagramm 3) wurden zur Zeit der spätgotischen Bauwelle errichtet. Kaum 10 Kirchen fallen in das Intervall +/- 5 Grad. Man hat vielmehr den Eindruck, die Orientierungen der Kirchenachsen meiden diesen Bereich. Es ist also mehr als fraglich, ob man überhaupt mit dem Kompaß orientierte.

Wir haben es hier mit dem gleichen Problem zu tun, wie bei der Orientierung mit dem indischen Kreis: die meisten Kirchenachsen weichen zu sehr von der durch Kompaß oder Schattenstab angegebenen Ost-West-Richtung ab. Die Anwendung von Kompaß oder indischem Kreis bei der Ostung ist höchst unwahrscheinlich.

(Diagramm 3: Kirchenorientierungen nach E. Reidinger)

Fortpflanzung von Absteckfehlern im mittelalterlichen Kirchenbau (2. Aufl.*)

Fallbeispiel 1: Die Absteckung des Speyrer Domgrundrisses

Walter Haas konnte bei seinen Untersuchungen an den Fundamenten des Doms zu Speyer systematische Absteckfehler feststellen, die sich über den gesamten Grundriß fortpflanzten. Daraus konnten wichtige Rückschlüsse über den Absteckvorgang bei einem Bau des 11. Jahrhunderts abgeleitet werden. Der Vorgang soll am Beispiel der Krypta von Speyer erklärt werden:

0 Nach Entwurf des Grundplans und Vorbereitung des Baugrundes (Einebnung etc.) wird

1 die Kirchenachse festgelegt und

2 die Querachse im rechten Winkel dazu errichtet.

3 Dabei passiert ein geringer Winkelfehler.

4 Die weiteren Bauachsen werden an diesem verdrehten Achsenkreuz durch Längsmessung und

5 Quermessung angelegt.

Der Querachsenfehler pflanzt sich über den gesamten Grundriß fort, sodaß das Netz der Bauachsen nicht orthogonal ist, sondern ein für diese Art der Vermessung charakteristisches Parallelogramm ergibt. Es ist daher anzunehmen, daß der Grundriß nicht in Abschnitten vermessen, sondern in einem Zug durch sehr genaue Längenmessungen angelegt wurde. Eine Korrektur des Winkelfehlers unterblieb, sei es, daß er nicht bemerkt wurde oder als vertretbar erschien. Hypothetisch bleibt, ob zunächst die Querachsen - wie in der Animation angenommen wird - vvermessen wurden, oder ein anderes Verfahren für die Anlage des Rasters mit Seilen zur Anwendung gelangte. Bauteile aus späteren Bauabschnitten oder Bauphasen fallen durch ihre Abweichung vom Meßraster auf (Türme, Kapellen, Sakristeien etc.)

Voraussetzung für die Reproduzierbarkeit dieses Vermeßungsverfahrens ist einerseits, daß der Bau relativ einheitlich ist, anderseits eine gewisses Mindestmaß an Regelmäßigkeit bei den Baufluchten aufweist.

 Fallbeispiel 2: Absteckungsachsen des Domes von Wiener Neustadt

Der Dom von Wiener Neustadt (Niederösterreich) wurde nach den Untersuchungen von Erwin Reidinger 1192/93 abgesteckt. An diesen spätromanisch-frühgotischen Kirchenbau wurde in der Gotik eine neue Choranlage angebaut und die Westanlage, ursprünglich zum Erstbau gehörig, unter historisierenden Veränderungen zu Beginn des 20. Jh. neu errichtet. Die hochmittelalterliche Choranlage wurde vor einigen Jahren archäologisch erfaßt.

Auf den ersten Blick ist die schon bei Speyer festgestellte Verschiebung des orthogonalen Achsennetzes zum Parallelogramm erkennbar. Sie ist in Wr. Neustadt aber wesentlich stärker ausgeprägt. Der Querschiff- und Chorbereich schließt mit einem deutlichen Knick nach Süden an die romanische Anlage an, doch folgt die gotische Chorachse annähernd dem romanischen Chorquadrat mit anschließender Apsis. Vergleicht man die Situation mit Speyer, so fällt auf, daß Chor und Langhaus - wie beim Kaiserdom - zwar zeitgleich sind, aber dennoch einenn Knick aufweisen.

 

E. Reidinger erklärt dies mit zwei unterschiedlichen Orientierungsachsen: eine "weltliche Achse" für das Langhaus (Pfingsten 1192) und eine "kirchliche Achse" für den romanischen Chor (Sonnenaufgang Pfingsten 1193). Die Daten bringt Reidinger in Zusammenhang mit historischen Ereignissen bei der Gründung der Stadt (Belehnung, Grundsteinlegung usw.) Andererseits erklärt Reidinger den Knick als eine Folge eines "starren" Absteckschemas von zwei unterschiedlichen Orientierungsnetzen. Die Verschwenkung der Langhausquerachse bewirkt beim eigenständig angebundenen System der Choranlage eine Drehung der Chorachse. Bei Vorträgen brachte dies Reidinger überzeugend durch Demonstration an einem vereinfachten Holzgittermodell durch simples Verschieben der "Seitenschiff-Fluchten" zum Ausdruck (Die Abbildung zeigt das orthogonale Netzmodell, dann jenes, welches Wr. Neustadt entspricht und schließlich eine überhöhte Verschwenkung)

 

Die nebenstehende Animation vergleicht die beiden Fälle von Speyer (einheitliches Abstecknetz mit Winkelfehler in der Querachse) und Wr. Neustadt (Zusammenhang zwischen der parallelen Verschiebung des Langhauses und der Chorachse bei getrennten Absteck- bzw. Orientierungssystemen) an einem vereinfachten Modell. Daraus geht hervor, daß Achsknicke nicht unbedingt die Folge von Neuorientierungen sein müssen, sondern auch dadurch entstehen können, daß an einen Baukörper oder ein Abstecknetz mit Querachsenfehler (1. Auflage: orthogonal*) mit unterschiedlicher Orientierungangebunden wird.
 
 

Beim Fall II muß nicht unbedingt auf  zwei Bauphasen im Sinne einer späteren Erweiterung oder eines Umbaus geschlossen werden. Insbesondere bei Großbauten ist das abschnittsweise Errichten von Baukompartimenten (zB. jochweises Weiterbauen nach einem bereits festgelegten Konzept; vgl. Bamberger Dom usw.) durchaus üblich. Daraus ergeben sich die oft jahrzehntelangen Bautätigkeiten, die letztlich ihre Ursache in der mittelalterlichen Baufinanzierung haben (keine Vorfinanzierung, daher konnte nur gebaut werden, wenn Geld aus Dotationen, Ablässen, Stolengebühren usw. vorhanden war. Dies ist auch der Grund für so manchen unvollendet geblieben Kirchenbau: durch die Reformation gingen die üblichen Kircheneinnahmen aus Ablässen etc. verloren). Großbauten wurden auch nicht immer - wie oft zu lesen ist - "scheibchenweise" von unten nach oben, oder vom Chor linear zum Langhaus hin errichtet. Ein beeindruckendes Beispiel ist der Kölner Dom, dessen Torso mit Baukörpern im Osten und Westen erst im 19.Jh. fertig gestellt wurde.

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*) Version 1 auf Wunsch E. Reidingers 2005 geändert. Eine ausführliche Kritik E. Reidingers an der erstmals von  Haas/Kubach 1972 vertretenen Ansicht eines "Absteckfehlers" wurde 2014 publiziert: "E. Reidinger, 1027: Gründung des Speyrer Domes. Sonne - Orientierung - Achsknick - Gründungsdatum - Erzengel Michael", in: Schriften des Diözesan-Archives Speyer, Bd. 26, Speyer 2014, S. 82, FNote 146. Dort wird noch Bezug auf die Version 1 genommen. Ich habe das so belassen.


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