Bauarchäologische Anmerkungen zur ersten romanischen Westfassade von St. Stephan in Wien

Bauarchäologische Anmerkungen zur ersten romanischen Westfassade von St. Stephan in Wien

Rudolf Koch, Wien

Aus: Aachener Kunstblätter, Bd. 60/1994, S. 173 - 184. [Gesamtindex]

Die bauarchäologische Erforschung der romanischen Westfassade von St. Stephan in Wien (Abb. 1) reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. War es zunächst das Riesentor, das anläßlich einer Restaurierung in seinem Baugefüge näher untersucht wurde [1], so konnte Friedrich von Schmidt im Zuge umfangreicher Befundungen den erhaltenen Restbestand der hochmittelalterlichen Westanlage bauanalytisch erfassen und von den gotischen An- und Umbauten differenzieren [2]. Ihm verdankt die Forschung ein erstes relativchronologisches Gerüst der Westanlage und die Rekonstruktion ihrer Binnenstruktur (Abb. 2), die bis heute grosso modo noch Gültigkeit besitzen. Schmidt vertrat dabei die Ansicht, daß von jenem zwischen 1137 und 1147 errichteten Erstbau im Aufgehenden nichts mehr erhalten sei - St. Stephan I wäre beim Stadtbrand von 1258 zugrunde gegangen und durch den Neubau von St. Stephan II, dessen romanische Teile sich in der Westanlage zwischen den Heidentürmen erhalten haben, ersetzt worden.

Erst nach dem großen Dombrand von 1945 war es wieder möglich, Untersuchungen der Bausubstanz in größerem Ausmaß durchzuführen. Notgrabungen im nördlichen Langhaus und im Querhaus- bzw. Chorbereich durch Karl Oettinger ergaben, daß der Bau von St. Stephan II grundrißgleich über den Fundamenten von St. Stephan I errichtet worden ist [3]. Sensationeller noch für die Baugeschichte der Westanlage von St. Stephan waren Grabungen in den Erdgeschoßräumen des südlichen Heidenturms (Abb. 3) und Bauuntersuchungen im nördlichen Heidenturm durch den Geologen Alois Kieslinger [4]. Aufgrund von Stilvergleichen der dort erhaltenen ehemaligen Gewölbekonsolen mit ähnlichen Würfelkapitellen in der Krypta von Gurk kam Kieslinger [5] zu dem Schluß, daß zumindest das Kernmauerwerk der untersten Geschosse der Heidentürme noch vom Erstbau stammen müsse; St. Stephan I hatte also bereits eine Doppelturmanlage. Da die sichtbaren Gliederungselemente der Westfassade und die Kapitelle der hochmittelalterlichen Emporenpfeiler nach den bisherigen Forschungen ausschließlich spätromanische Formen zeigen, nahm Josef Zykan [6] an, daß um 1230 eine spätromanische Ummantelung des untersten Geschosses der Westfassade stattgefunden habe.

Einen neuen Impuls zur stilistischen Beurteilung der Fassadengestaltung erhielt die Forschung durch die Bauuntersuchungen Erika Doberers [7]. Sie stellte die Hypothese auf, daß sowohl Teile der bisher einheitlich als spätromanisch angesehenen Plastik des Riesentores als auch der Vorbau in seiner heutigen Erscheinung das Ergebnis einer romanisierenden Umgestaltung aus der Zeit um 1500 seien.

Im Zuge der Vorarbeiten zum U-Bahn-Bau am Stephansplatz war im Jahre 1970 erstmals die Gelegenheit gegeben, die Fundamente der Westfassade zu untersuchen [8]. Die Grabungen wurden jedoch nicht nach archäologischen, sondern nach baustatischen Gesichtspunkten durchgeführt. Nach Josef Zykan [9] zeigen die Schnitte beiderseits des Riesentores, daß die Zungenmauern des Portalvorbaus auf älteren Fundamenten ruhen, die ohne Baufuge in jene der Westfassade einbinden. Demnach hatte schon die Doppelturmanlage von St. Stephan I, deren Reste im Kernmauerwerk der Heidentürme erhalten sind, eine Vorhalle, vergleichbar jener der Stephanskirche von Passau [10].

Die vollständige Publikation der vorhandenen und noch nicht umgezeichneten Grabungspläne (Abb. 4 und 5) von 1970 ist dem Stadtarchäologen Ortolf Harl zu verdanken, der sie damit - zunächst ohne Interpretation - zur weiteren Bearbeitung zugänglich machte [11]. Dieses Material blieb jedoch von der Bauforschung unbeachtet. In seiner zehn Jahre später folgenden Auswertung [12] unternahm Harl den Versuch, die archäologischen Fakten mit eigenen Beobachtungen am Aufgehenden für eine relative Chronologie der romanischen Fassadenteile nutzbar zu machen. Gestützt auf die Hypothese Erika Doberers von einer romanisierenden Komponente um 1500 im Stilbild der Westfassade und unter Berücksichtigung der Form der Dreiecksgiebel sowie der Tatsache, daß die Wandebene der Westfassade bis zu den Turmhelmen ohne Rücksprünge durchläuft, kam Harl zu dem Schluß, daß die gesamte Fassadengliederung einer historisierenden Umgestaltung der Fassade vor 1474 zuzuschreiben sei [13]. Dieser Hypothese wurde bereits im gleichen Publikationsorgan glaubhaft durch Marlene Zykan [14] widersprochen.

Baubefundungen, die anläßlich eines seit 1992 laufenden interdisziplinären Forschungsvorhabens an der Westfassade [15] gemacht wurden, legen es nahe, die bisherige archäologische Interpretation unter Einbeziehung von historischem Bildmaterial erneut zu diskutieren.

Bei der Analyse der Fundamentstruktur ist zunächst festzuhalten, daß sowohl bei den gotischen Fundamenten der Westkapellen als auch bei jenen der romanischen der Fassade die Pfeilerachsen im Aufgehenden teilweise nicht mit den Fundamentvorsprüngen übereinstimmen. So hängt etwa der mittlere Strebepfeiler an der Südseite der Eligiuskapelle rund 15 cm unfundiert gegen Osten über. Das Fundament der nordwestlichsten Wandvorlage an der Fassade steht praktisch in Flucht der Nordwand der Kreuzkapelle.

Stärker noch sind diese Achsenverschiebungen bei den romanischen Pfeilerfundamenten. Am Nordwestpfeiler der romanischen Fassade verläuft im Aufgehenden eine deutlich erkennbare Baufuge zur Kreuzkapelle. In den oberen Partien kommt sogar ein Teil der abgeschrägten Mittellisene zum Vorschein (Abb. 6). Wie Ortolf Harl in seiner zweiten Publikation [16] bemerkt, fehlt hingegen im Fundament an entsprechender Stelle eine Baufuge; die zeitlich unterschiedlichen Bauteile scheinen demnach auf einem einheitlich durchlaufenden Fundament zu ruhen. Dieser Widerspruch dürfte auf einen Fehler bei der Umzeichnung der Pläne zurückzuführen sein, denn schon Josef Zykan [17] erwähnt eine Fuge im Fundament, die überdies in den noch nicht umgezeichneten Plänen der Erstpublikation als ca. 80 cm westlich der Baufuge im Aufgehenden eingetragen ist. Der nordwestliche Eckpfeiler der romanischen Westanlage steht daher achsial auf einem weit vorkragenden Blockfundament. Den gleichen Befund läßt sein Pendant an der Südwestecke erahnen.

Im Gegensatz dazu sitzt die nördliche Wandvorlage beim Vorhallenbau zu einem Drittel auf dem Fundament der Westwand auf, erst dann springt der Fundamentblock auf gleiche Höhe mit jenen der Eckpfeiler vor. Die südlich der Vorhalle gelegene Wandvorlage benützt überhaupt nur den Fundamentvorsprung der Westwand als Auflager, so daß der Eindruck entsteht, daß die Vorlage - abweichend von der übrigen bisher bekannten Struktur der Pfeilerfundamente - nahezu lotrecht und ohne Absatz in den Unterbau übergeht. Das hier anschließende Fundament hingegen zieht wieder auf die schon bekannte Tiefe vor die Bauflucht der Fassadenwand.

Die beiden Vorsprünge werden seit Josef Zykan [18] als Fundamente einer älteren Vorhalle von St. Stephan I interpretiert, über denen dann im 13. Jahrhundert, nach Erika Doberer [19] erst um 1500, der bestehende, spitzbogig geschlossene Vorbau errichtet wurde. Dies erscheint bei Betrachtung des südlichen Vorhallenfundamentes zunächst evident [20]. Da jedoch selbst bei den sorgfältiger gemauerten gotischen Fundamenten der Westkapellen Abweichungen bis zu 15 cm nachweisbar sind, stellt sich die Frage, ob nicht zumindest der nördliche Fundamentvorsprung der Vorhalle für die dort flankierende Wandvorlage berechnet war, denn bei einer Verschiebung der Pfeilerachse um nur ca. 20 cm würde die Sockelkante bereits in den Bereich jener Bautoleranzen fallen, die beim gotischen Erweiterungsbau nachweisbar sind. Die romanischen Fundamente scheinen mit noch größeren Abweichungen gemauert zu sein. Das Fundament für die Wesiwand springt an der nördlichen Hälfte der Fassade offensichtlich um rund 40 cm weiter vor als an der südlichen, wie ein Vergleich im Bereich der die Vorhalle flankierenden Wandvorlagen zeigt.

Analysiert man die Profilschnitte der Fundamentvorsprünge, so fällt auf, daß diese mit erheblichen Strukturinhomogenitäten, aber sicherlich in einem Zug hochgeführt wurden. Die Fundamente der gotischen Strebepfeiler zeigen mehrfach abgetreppte Vorsprünge und eine nahezu senkrecht verlaufende, abgeglichene Mauerstirn - sie wurden daher freistehend in die Baugrube gesetzt. Ähnliches gilt für die romanischen Grundmauern der Fassadenwand. Die Fundamente der Eckpfeiler und insbesondere jene der beiden inneren Wandvorlagen haben keine sorgfältig ausgeführten Stirnflächen. Die Übergangskanten zwischen Wand und Vorlage sind teilweise verschliffen. Außerdem verlaufen sie nicht lotrecht, sondern hängen praktisch um bis zu 30 cm über. Sie wurden demnach "gegen Erde" in die bloß schleuderhaft ausgehobene Baugrube eingebracht. Sowohl beim Abstecken der Fundamentzüge als auch beim Hochführen des Unterbaues scheint man wenig Wert auf Baugenauigkeit gelegt zu haben. Dem weiteren Ausbau des Aufgehenden mit seiner exakten Baugeometrie ging offensichtlich eine Neuvermessung und Korrektur der Bauachsen voraus.

Die Zerlegung des Baufortganges in zwei weitgehend unabhängige "Vermessungsschritte" ist typisch für die Bautechnik des Mittelalters und wurde unter anderem schon von Walter Haas bei seinen Untersuchungen am Speyrer Dom nachgewiesen [21]. Unter diesem Blickwinkel liegen die eklatanten Bauabweichungen von Fundament und Aufgehendem durchaus im Bereich der Gepflogenheiten mittelalterlicher Bauweise. Die beiden Fundamentvorsprünge gehören daher mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einer älteren Vorhalle, sondern zu den Sockeln der inneren Wandvorlagen.

Ein weiteres Argument dafür ergibt sich aus der Analyse der Wandstruktur in der Erdgeschoßzone der Fassade. Die Wandebene der beiden romanischen Fassadenteile zu seiten des Riesenportals läuft einheitlich bis in die oktogonalen Turmaufsätze durch. In dem schmalen Zwickel zwischen den inneren Wandvorlagen und dem Vorbau springt diese Wandebene jedoch annähernd nur bis in die Hälfte des Dreiviertelrundstabes ein. Genau über der Oberkante des äußeren Portalfrieses fehlt auch dieser Rücksprung - die Wandebene schließt nun planparallel mit der Stirnfläche der Lisene ab (Abb. 7). Es ensteht somit eine Art Mittelrisalit, wobei die im unteren Bereich noch als Wandvorlagen anzusprechenden Lisenen zur Kantenprofilierung des Risalits degenerieren. Der Risalit hängt demnach oberhalb des Portalfrieses gleichsam über die Vorhalle hinaus. Die Strukturänderung im Baukörper der Westfassade erhält nur dann einen Sinn, wenn man sie in Zusammenhang mit einem Planwechsel sieht, der auf den Ausbau der Westempore zurückzuführen ist [22].

Offen bleibt hingegen die Frage, wieso unterhalb des Frieses der schmale Wandteil zwischen Vorhalle und Lisene nicht bis in die Tiefe der seitlichen Wandebene zurückspringt. Da aufgrund der Fundamentgestaltung anzunehmen ist, daß die ältere Doppelturmanlage von St. Stephan I keinen vortretenden Portalvorbau besaß, lag das Westportal entweder in Flucht der Fassadenebene oder innerhalb einer offenen Vorhalle, wie in Gurk, St. Lambrecht oder bei den romanischen Domen von Salzburg [23]. Die auffallende Verschiebung der beiden bisher als Vorhallenfundamente interpretierten Mauerzungen gegen die Achse zwischen den Heidentürmen läßt den Schluß zu, daß sie für einen ähnlichen Pfeilerunterbau berechnet waren, wie er uns an den Ecken der romanischen Fassade erhalten blieb. Nachmessungen an den inneren Wandvorlagen ergaben, daß der Dreiviertelrundstab der Lisene ca. 14 cm hinter dem Mauerzwickel zwischen Vorhalle und Lisene endet und hier jene Wandvorlage ansetzen müßte, welche den äußeren Abschluß einer zu rekonstruierenden offenen Vorhalle zwischen den Heidentürmen bildete. Petrographische Untersuchungen der Außenseite der Vorhalle ergaben, daß diese Wandteile im wesentlichen aus dem gleichen Baumaterial beschaffen sind wie jene der übrigen romanischen Westfassade des 13. Jahrhunderts. Außerdem stehen die Quadermauern über dem Vorhallenfries eindeutig im Verband mit dem Risalit. Eine erste bautechnische Untersuchung an den gerade herausführenden Zungenmauern im Inneren der Vorhalle ließ ebenfalls keine Baufugen erkennen. Der Vorbau entstand daher nicht, wie Erika Doberer meint, erst in der Zeit um 1500, sondern gleichzeitig im Zuge des Neubaus von St. Stephan II. Es dürfte somit auch in den Partien unterhalb des Vorhallenfrieses am Außenbau keine Baufuge zwischen den eingetieften Mauern des Vorbaus und den Lisenen bestehen. Die heute in diesem Wandzwickel deutlich erkennbare Baufuge entstand erst im 19. Jahrhundert durch die Restaurierungsmaßnahmen unter Friedrich von Schmidt, als die dort befindlichen und in die Lisenen eingetieften Epitaphien entfernt wurden.

Eine Fotografie (Abb. 8) aus der Zeit während der Restaurierung zeigt, daß der schmale Wandzwickel neben der Südecke der Vorhalle dennoch mit einer eindeutig erkennbaren Baufuge an die Lisene anläuft. Die Lisene unterhalb des Portalfrieses muß daher älter sein als der Portalvorbau und der darüberliegende Risalit. Der Bau-befund bestätigt, daß hier die Lisene unter dem Mauerwerk der Vorhalle des 13. Jahrhunderts um die Ecke weiterführte. Diese Ecklösung erhärtet die archäologische Hypothese einer offenen Vorhalle zwischen den Heidentürmen aus der Bauzeit von St. Stephan I.

Die Datierung der Lisenenform und damit des gesamten Gliederungssystems aus bauarchäologischer Sicht scheint zunächst in krassem Widerspruch zur bisherigen stilkritischen Beurteilung zu stehen. Zweifellos können weder die Dreipaßfriese noch die reich ornamentierten Rundfenster der Fassade vor dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden sein. Gleiches gilt für das um die Wandvorlagen verkröpfte Sockelband mit seinem abfließenden Profil und die fallend geschwungene Eckzier der Pfeilerbasen (Abb. 9). Wie die jüngsten bauanalytischen und vor allem die petrographischen Untersuchungen an der Westfassade erkennen ließen, wurden gerade im kritischen Bereich der Fassadenwand unterhalb des Vorhallenfrieses - insbesondere im Sockelbereich - im 19. Jahrhundert massive Auswechslungsarbeiten vorgenommen. Der gesamte Sockelbereich einschließlich der Basenwülste gehört nicht mehr zum Altbestand.

Wie der überaus genaue und für die Bauforschung wichtige Stich von Carl Schütz aus dem Jahre 1792 (Abb. 10) zeigt, wurden die Sockelpartien im Barock durch schräge Platten verkleidet. Eine Eckzier an den Basenwülsten fehlt. Noch vor der Restaurierung durch Schmidt lief der Sockelwulst ohne diese Eckzier als einfacher Rundwulst über die Lisenen. Teilweise war das Sockelband der nördlichen Fassadenseite durch eine einfach abgeschrägte Platte ersetzt (Abb. 11). Eine von Schmidt an der Außenecke der Eligiuskapelle freigelegte Vorlage ist ebenfalls ohne Eckzier; das Wulstprofil fließt nicht asymmetrisch ab, sondern ist streng halbkreisförmig. Daraus folgt, daß die Sockelformen nicht dem 13. Jahrhundert angehören, sondern eine romanisierende Neuschöpfung Julius Hermanns (1898) sind. Das ursprüngliche Sockelband mit seinen noch streng stereometrischen Profilen und damit der Typus der Wandvorlagen gehören dem Erstbau des 12. Jahrhunderts an [24]. Ein weiteres Argument für die Datierung der mittleren Doppelvorlagen in die Bauzeit von St. Stephan I ergibt sich aus der Lage der Fenster in den beiden Turmkammern (Abb. 12). Sie gehören dem Baubefund nach sicher zum ältesten Bestand und sitzen eigenartigerweise nicht in der Mittelachse der Wand. Ihre Laibungen verlaufen derart schräg verschoben, daß ihre kleinen Rundbogenöffnungen an der Fassade unmittelbar neben den Doppellisenen zu liegen kommen. Die Fenster rechnen somit bereits mit dem Vorhandensein der Wandgliederung.

Die baulichen Reste von St. Stephan I haben sich also nicht lediglich in den beiden untersten Kammern der Heidentürme erhalten, sondern auch am Außenbau in Form der vertikalen Wandgliederung. Die Zäsur zwischen dem Bau des 12. Jahrhunderts kann an mehreren Stellen erschlossen werden. Im Bereich der Portalvorhalle verläuft sie in Höhe des Portalfrieses, denn darüber verzahnen einerseits die Mauern des Mittelrisalits, andererseits wird hier die plastische Wandvorlage zur Kantenprofilierung. Im Inneren der Turmkammern konnte Alois Kieslinger aufgrund der Würfelkonsolen die Scheitelhöhe des dazugehörigen Gewölbes mit annähernd 5,3 m bestimmen [25]. Die Mauerkrone dieses ältesten Turmteiles zeigt in rund 6,6 m Höhe einen ersten Absatz. Dies entspricht an der Fassade einer Bauhöhe von ca. 1 m über dem Vorhallenfries für das Gewölbe und der letzten Quaderschicht unterhalb der Konsolen des Dreipaßfrieses für den Mauerabsatz. Das Bodenniveau der spätromanischen Empore konnte Friedrich von Schmidt unter dem jetzigen der spätgotischen Empore mit rund 7 m Höhe ermitteln, was in etwa mit der Lage der Dreipaßfriese zusammenfällt. Die Bausubstanz von St. Stephan I endet daher frühestens beim Portalfries und spätestens unterhalb des Dreipaßfrieses. Der spätromanische Emporenboden und alle mit Sicherheit dem 13. Jahrhundert zuzurechnenden Teile der Bauzier befinden sich über dieser Zone. Eine tiefgreifende Brandzerstörung, welche maßgeblich für die Abtragung gewesen sein könnte, erscheint unvorstellbar. Die Heidentürme wurden demnach bewußt beim Neubau von St. Stephan II gekappt.

Für die von Josef Zykan [26] hypothetisch angenommene Verblendung der Heidentürme im 13. Jahrhundert bestand keine Notwendigkeit. Das System der Wandvorlagen des 12. Jahrhunderts bildete offensichtlich kein zeitstilistisches Hindernis. Sie wurden, wenn auch in veränderter Form (Umwandlung der Wandvorlagen in Kantenprofilierungen), in das Konzept des 13. Jahrhunderts übernommen und fortgeführt. Eine Verblendung hätte bautechnisch entweder die Auswechslung der gesamten äußeren Quaderschale erfordert - dafür fehlt jeglicher bautechnischer Hinweis - oder ein Vorlegen dünner Quaderplatten. Diese hätten eine Verringerung der Fundamentvorsprünge bewirkt [27]. Die Fundamente von St. Stephan I wären somit vor der Ummantelung noch weiter vorgesprungen, als dies bei den Grabungen von 1970 erschlossen wurde.

Daß bei der Überbauung der älteren Westanlage im 13. Jahrhundert die mittleren Doppellisenen unter den Rundfenstern abrupt enden, läßt darauf schließen, daß ein Planwechsel stattfand [28]. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mauern der Empore bereits rund drei Meter über den Emporenboden hochgeführt, also weit über die älteren Turmreste hinaus. Bei zeitgerechter Einplanung der Rundfenster wären die Doppellisenen des 12. Jahrhunderts beim Bau der spätromanischen Empore nicht so nah an die Fensteröffnungen - sie überschneiden teilweise fast den Rahmen (Abb. 13) - herangeführt worden.

Durch diesen offensichtlichen Baukonflikt wird das Augenmerk auf das prinzipielle Verhältnis von Außengliederung, Durchfensterung und Emporengestaltung gelenkt. Es wäre zu überlegen, ob wir aus der zunächst offensichtlich nicht geplanten Errichtung der westlichen Rundfenster Rückschlüsse auf die Gestaltung der Westempore erhalten könnten. Ist es denkbar, daß zunächst keine Erweiterung der Westempore in die Turmjoche projektiert war, oder sollten diese Seitenräume lediglich durch die Nord- und Südseite beleuchtet werden? Die dort unter Friedrich von Schmidt und nach 1 945 freigelegten Fensterrosen (Abb. 14) zeigen in ihrem fragmentierten Zustand jedenfalls eine abweichende Ornamentstruktur von anderer Wertigkeit. Zweifellos lassen die Relikte der vertikalen Wandgliederung des 12. Jahrhunderts und ihre für eine Durchfensterung nicht unproblematische Übernahme ins Konzept von St. Stephan II erkennen, daß bei dieser Gliederungsstruktur St. Stephan I keine Emporen in den Turmjochen hatte.

Die neuerliche Auswertung eines Teils der Grabungen von 1970 und die derzeit laufenden Bauuntersuchungen erbrachten den Nachweis, daß von der Bausubstanz der ersten Westanlage von St. Stephan auch am Außenbau die unterste Zone erhalten blieb. Diese im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts hochgeführte Anlage war in ihrer Grundrißstruktur und im Gliederungssystem mitbestimmend beim Neubau der Westanlage des 13. Jahrhunderts.

ANMERKUNGEN


[1] E. Melly, Das Westportal des Domes zu Wien, Wien 1850. Die Bauaufnahmen erfolgten schon 1846 durch den Architekten L. Oescher. Bei der dabei durchgeführten Reinigung wurden auch Fassungsreste festgestellt.

[2] F. Schmidt, Ueber die zwei älteren Bauepochen der Domkirche zu St. Stephan. In: Wiener Dombauvereins-Blatt, 1(1881), S. lf., S.5f.

[3] K. Oettinger, Die Grabungen von St. Stephan 1945 - 1948. In: Mitteilungen des Institutes für österreichische Geschichtsforschung, 57 (1949), S. 339ff.

[4] A. Kieslinger, Die Steine von St. Stephan, Wien 1949, S. 99 f., S. 222 ff.

[5] Der stilistische Vergleich geht auf den Kunsthistoriker F. Kieslinger, den Bruder des Geologen, zurück. Siehe F. Kieslinger, Unser Dom, Wien 1952, S. 5.

[6] J. Zykan, Zur Baugeschichte der romanischen Stephanskirche in Wien. In: Kat. "Romanische Kunst in Österreich", Krems a. D. 1964, S. 261 ff.

[7] E. Doberer, Der plastische Schmuck am Vorbau des Riesentores. In: Festschrift für K. Oettinger, Erlanger Forschungen, Reihe A, 20 (1967), S. 353ff.

[8] Fundberichte aus Österreich, 9 (1970), S. 327.

[9] J. Zykan, Das romanische "Westwerk" von St. Stephan in neuer Sicht nach den Fundamentuntersuchungen des Jahres 1970. In: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung, 24 (1972), S. 14ff.

[10] Ebenda, S. 16. J. Zykan denkt bei der Rekonstruktion an "eine Art geschlossenes 'Paradies' ohne Empore ... Es muß demnach beim ersten Bau zwei Tore gegeben haben, ein schlichtes an der Außenseite des 'Paradieses' und das eigentliche an der Ostflucht der Heidentürme, wohl ein einfaches Treppenportal, wovon uns das gleichzeitige Portal der Rundkirche in Petronell vielleicht eine Vorstellung geben kann." (ebenda, S. 15). Sowohl F. Kieslinger, Dom (zit. Anm. 5), als auch J. Zykan vergleichen die so erschließbaren Bauformen der Westanlage von St. Stephan I mit Beispielen aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Der Bau der Westanlage von St. Stephan I wurde daher erst rund 30 Jahre nach dem auf St. Stephan bezogenen Weihedatum von 1147 in Angriff genommen. J. Zykan sieht in diesem Datum lediglich einen Hinweis auf eine Teilweihe des Altarraumes, wohl in Zusammenhang mit dem Beginn des bernhardinischen Kreuzzuges.

[11] O. Harl, Archäologische Ergebnisse aus dem Bau der U 1 für die mittelalterliche und neuzeitliche Geschichte Wiens. In: Studien 79/80 aus dem Historischen Museum der Stadt Wien (Hrsg. R. Waissenberger), Wiener Schriften 44 (1980), S. 44 und Abb. 25 - 33. Die Publikation beschränkte sich auf den Hinweis, daß das Außenniveau einst 30 cm unter dem heutigen lag. Seine Interpretation, daß daher "zum Riesentor mindestens zwei Stufen hinaufgeführt haben", ist unhaltbar. Schon F. Schmidt konnte durch Grabungen in der Vorhalle nachweisen, daß der romanische Pflasterboden (Ziegel) rund 25 cm unter dem jetzigen Innenniveau lag. Siehe F. Schmidt, Bericht. In: Mitteilungen der k. k. Centralcommission für Kunst. und historische Denkmale, 12 (1886), S. XLIV. Das gleiche Niveau stellten A. Kieslinger, Steine (zit. Anm. 4), für den Boden im südlichen Heidenturm und K. Oettinger, Grabungen (zit. Anm. 3), für jenen im nördlichen Seitenschiff fest.

[12] O. Harl, Archäologische Beiträge zur Baugeschichte des Westwerks von St. Stephan in Wien. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 44 (1990), S. 39 ff.

[13] Ebenda, S. 45 f. Der terminus ante quem von 1474 bezieht sich auf die Darstellung von St. Stephan am Altar des Schottenmeisters, wo die Türme bereits in ihrer überlieferten Form erscheinen.

[14] M. Zykan, Der Westbau von St. Stephan. Zur Forschungslage und aktuellen Problematik. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 44 (1990), S. 47 ff. Hier findet sich auch die Zusammenfassung des bisher letzten Forschungsstandes zur gesamten Westfassade.

[15] Die Initiative zu dieser Zusammenarbeit geht auf den Jubilar zurück. Sie steht in Zusammenhang mit einer Gesamtuntersuchung des Domes, die ideell und materiell vom Obmann der Kommission für Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Univ.-Prof. Dr. H. Fillitz, unterstützt wird. Sie umfaßt für die Westfassade derzeit die geodätische Vermessung, die petrographische Aufnahme der Außenfassade (Forschungsfondsproiekt 7007 Geo, Projektleitung Univ.-Doz. H. W. Müller, Institut für Bodenforschung und Baugeologie der Universität für Bodenkultur in Wien) und die Untersuchung der romanischen Bauplastik bzw. der Architektur im Rahmen von zwei Forschungsfondsprojekten (Früh- und hochmittelalterliche Skulptur in Österreich, Romanische Architektur in Österreich, Projektleitung Univ.-Prof. Dr. H. Fillitz). Der Autor möchte an dieser Stelle seinen Dank für die Übertragung und Unterstützung der bauarchäologischen Untersuchungen zum Ausdruck bringen.

[16] O. Harl, Beiträge (zit. Anm. 12), S. 43.

[17] J. Zykan, Westwerk (zit. Anm. 9), S. 15.

[18] Ebenda, S. 15.

[19] Doberer, Riesentor (zit. Anm. 7), S. 355. Nach Doberer spricht für die Errichtung der Vorhalle in der Zeit um 1500 weiters, daß auf dem Holzschnitt des Heilthumbuches von 1502 der Vorbau im Gegensatz zur dunkel schraffierten Westfassade als weiße Fläche dargestellt wird, wodurch er als neuer, eben erst vollendeter Bau charakterisiert wird.

[20] Die von J. Zykan angenommenen Fundamente der Vorhalle lägen jedoch mit ihren Achsen seitlich um rund 40 cm gegenüber der Portalachse verschoben.

[21] H. E. Kubach - W. Haas, Der Dom zu Speyer (Die Kunstdenkmäler von Rheinland-Pfalz Bd. 5), München 1972.

[22] Das unterschiedlich weite Vorspringen dieser Wandteile hat erstmals P. Müller beschrieben, ohne daraus Schlüsse für den Baufortschritt zu ziehen. P. Müller, Das Riesenthor des St. Stephansdomes zu Wien, Innsbruck 1883, S. 26. Seither blieb das Phänomen weitgehend unbeachtet. Mit Ausnahme des Schnittführungsplanes bei Harl, Beiträge (zit. Anm. 12), zeigen alle bisherigen Grundrißpläne die somit falsch in die Erdgeschoßebene projizierte vorspringende Hochwand des Mittelrisalits!

[23] K. Ginhart- B. Grimschitz, Der Dom zu Gurk, Wien 1930. O. Wonisch, Die Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes St. Lambrecht (Österreichische Kunsttopographie Bd. XXXI), Wien 1951. H. Vetters, Die mittelalterlichen Dome in archäologischer Sicht. In: Festschrift zum l200jährigen Jubiläum des Salzburger Domes, Salzburg 1974, 5. 73 ff. Zur Problematik der romanischen Westanlagen des Salzburger Domes vgl.: F. Moosleitner, Bemerkungen zur Baugeschichte der mittelalterlichen Dome zu Salzburg. In: Von österreichischer Kunst (Festschrift Franz Fuhrmann; Hrsg. M. Oberhauser - T.Zaunschirm), Klagenfurt 1981, S. 9 ff.

[24] Die Vermutung, daß die abrupt endigenden Wandvorlagen an den Ecken der Westanlage und die in der Mitte der Westflächen emporstrebenden, dann aber unvermittelt unter den spätromanischen Rundfenstern des Emporengeschosses abbrechenden Doppelrundstäbe vielleicht "Relikte älterer Bauglieder" sein könnten, hat schon J. Zykan geäußert. Siehe J. Zykan, Baugeschichte (zit. Anm. 6), 5. 263.

[25] Vgl. A. Kieslinger, Steine (zit. Anm. 4), S. 101, Abb. 39.

[26] J. Zykan, Baugeschichte (zit. Anm. 6), S. 263.

[27] Letztere Technik gelangte im 15. Jahrhundert beim Abbruch des romanischen Langhauses zur Anwendung. Blickt man vom südlichen Seitenschiff aus auf die Ostwand der Eligiuskapelle, so sieht man links die Quaderwand der Kapelle des 14. Jahrhunderts, dann die Baunaht zur abgebrochenen romanischen Langhaus-Südwand und rechts davon die Verblendung der dadurch offenen Mauerstirn aus der Bauzeit der gotischen Westempore. Vgl. A. Kieslinger, Steine (zit. Anm. 4), S. 229, Abb. 110.

[28] Ähnlich unvermittelt unter einem Fenster endende Wandvorlagen finden sich auch im Landkirchenbau, so z. B. in Spannberg, Niederösterreich, am Turm, und in Deutsch-Altenburg, Niederösterreich, an der Apsis des Karners. Da in beiden Fällen die Pfeilerköpfe fehlen, spricht dies ebenfalls für einen Planwechsel. 

ABBILDUNGEN

Abb. 1 Wien, St. Stephan, Westfassade ohne die Kapellenanbauten des 14. Jahrhunderts

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Abb. 2 Wien, St. Stephan, Längsschnitt (West-Ost-Schnitt) durch den Westbau nach Friedrich von Schmidt mit Rekonstruktion der romanischen Anlage

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Abb. 3 Wien, St. Stephan, Ost-West-Schnitt durch das Erdgeschoß des südlichen Heidenturms mit den Grabungsergebnissen A. Kieslingers

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Abb. 4 Befunde der baustatischen Grabungen an der Westfassade von St. Stephan im Jahre 1970, Nordhälfte

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Abb. 5 Befunde der baustatischen Grabungen an der Westfassade von St. Stephan im Jahre 1970, Südhälfte

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Abb. 6 Wien, St. Stephan, Baufuge zwischen der Kreuzkapelle und dem romanischen Eckpfeiler

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Abb. 7 Wien, St. Stephan, Detail vom Zusammenschluß des Portalfrieses mit der Fassadenwand

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Abb. 8 Wien, St. Stephan, im 19. Jahrhundert erneuerte Wulstbasis mit fallender Eckzier an der südlichen Fassadenhälfte

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Abb. 9 Wien, St. Stephan, Ausschnitt aus der nördlichen Fassadenhälfte vor den Restaurierungen des 19. Jahrhunderts

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Abb. 10 Wien, St. Stephan, Westansicht, Ausschnitt aus dem Kupferstich von Carl Schütz, 1792

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Abb. 11 Wien, St. Stephan, Ansicht des südlichen inneren Fassadenpilasters nach Abnahme der Epitaphien; die Fuge zwischen Vorhalle und Fassadenwand ist am Quaderversatz der linken Vorlagenkante erkennbar

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Abb. 12 Wien, St. Stephan, Ausschnitt aus der Bauaufnahme von 1930

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Abb. 13 Wien, St. Stephan, spätromanisches Rundfenster an der nördlichen Westfassade mit dem Abschluß der Doppellisene

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Abb. 14 Wien, St. Stephan, spätromanisches Rundfenster von der Nordseite der Westempore

ABBILDUNGSNACHWEIS


Bildarchiv des Bundesdenkmalamtes Wien: Abb. 1, 13. - Bildarchiv der Nationalbibliothek Wien: Abb. 8, 10, 11. - O. Harl, Beiträge (zit. Anm. 12): Abb. 4, 5. – A. Kieslinger, Steine (zit. Anm. 4): Abb. 3. – R. Koch, Wien: Abb. 6, 7, 9, 14. - Planarchiv des Bundesdenkmalamtes Wien: Abb. 12.- Wiener Dombauhütte: Abb. 2.

 

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