Der Brotlaib von St. Stephan in Wien
Oral History" - oder Wie verläßlich ist die mündliche Überlieferung
Der Brotlaib von St. Stephan in Wien: Eine Schabespur an der romanischen Portalfassade von St. Stephan in Wien macht "Geschichte(n)".
st_stephan_schuetz.jpgÜber den Wert mündlich überlieferter Sitten und Gebräuche kann man ebenso unterschiedlicher Auffassung sein, wie über den Niederschlag älterer Geschehnisse in Sagen. Manche lehnen sie als wissenschaftlich verwertbare Quelle vollständig ab, andere bauen darauf ihre Theoriegebilde. Die Auswertung solcher Überlieferungen hat im Laufe der Forschungsgeschichte zu oft erstaunlichen Ergebnissen geführt, selbst dann wenn die Interpretation von falschen Prämissen ausging (zB Schliemann, Columbus). Man sollte sich jedoch stets bewußt sein, daß man solchen Überlieferungen oft ein viel zu hohes Alter beimißt, oder annimmt, daß die Erinnerung sehr weit zurückreicht. Wie rasch sich Legenden innerhalb einer Generation bilden können mag das folgende Beispiel verdeutlichen.
brotlaib2000.jpgDer Dom von St. Stephan in Wien entstand als bauliches Konglomerat vom 12. bis ins 16. Jahrhundert, sieht man von einigen späteren Veränderungen ab. Das Hauptportal - Riesentor genannt - stammt aus dem 2. Viertel des 13. Jh. An der linken Vorhallenwand waren bis zur jüngsten Restaurierung zwei Ellenstäbe und eine verputzte kreisförmige Wandstelle von ca. 50cm Durchmesser angebracht, deren Rand geringfügig eingetieft war.
Die beiden Ellenstäbe haben ihre Parallelen an zahllosen Kirchenwänden und Rathausfassaden in Deutschland oder Italien. Es sind Vorformen von Normmaßen. Sie treten oft gemeinsam mit Kornmetzen oder Ziegelmodel auf. Für St. Stephan ist gesichert, daß die Maßstäbe schon im 18. Jh. vorhanden waren, sie könnten sogar bis ins Mittelalter datieren.
Die eingeritzte und durch Mörtel betonte Scheibe galt "schon immer" unbestritten als gleichzeitig mit den Maßstäben und sollte als Normmaß für den Brotlaib gedient haben. Diese Ansicht wurde in den Schulbüchern über Generationen verbreitet und als ich ab 1992 die bauarchäologischen Untersuchungen am Riesentor durchführte, konnte ich mir diese Geschichte tagelang im 10 Minuten-Takt in mehreren Sprachen von den Reiseführern anhören. Die Scheibe spielte stets auch eine Rolle als Rechtsaltertum, nämlich als Ausgangspunkt für das sogenannte "Bäckerschupfen": erwies sich ein Brotlaib durch Nachmessen an der Domfassade als zu klein, wurde der Bäcker zur nahen Donau geschleppt, in einen Käfig gesperrt und nahezu bis zur Bewußtlosigkeit eingetaucht. Das "Bäckerschupfen" ist urkundlich belegt und fand in Wien zum letzten Mal 1773 statt. Schon daraus wurde stets abgeleitet, daß dieses Brotmaß älter sein müßte - "natürlich mittelalterlich". Der bauarchäologische Befund ergab jedoch etwas völlig anderes, was sich dann durch die Analyse historischer Fotographien belegen ließ:
r_tor_vor1880.jpg brotlaib_vor1880.jpg
Die Aufnahme zeigt das Riesentor vor 1880 (ca. 1850). Man erkennt noch das 1880 entfernte Rokokogitter, das außen angeschlagen war und nach dem Öffnen mit zwei Haken an den Vorhallenecken befestigt wurde. Der Bildausschnitt läßt die doppelte Kratzspur des Hakens und darunter die beiden Ellenmaße erkennen.
brotlaib_schuetz.jpg brotlaib_nach1880.jpg
Der linke Ausschnitt stammt von der Gesamtansicht der Fassade (siehe ganz oben) von 1792, der rechte Ausschnitt von einer knapp nach 1880 angefertigten Fotographie. Auf dem topographisch sehr genauen barocken Kupferstich fehlt (im Ausschnitt nicht sichtbar) das Portalgitter. Der Dom bekam sein Gitter erst in der Rokokozeit und damit auch die Haken. Das rechte Foto zeigt unbeschnitten bereits das 1880 angefertigte Gitter, das nach Innen aufging und daher keine Mauerhaken brauchte. Die Kratzspur ist im Zuge der damaligen Restaurierung verputzt worden.
brotlaib2004.jpgZustand 2004. Bei der letzen Restaurierung wurden der Rest des Eisendorns der Ringöse, welche den Mauerhaken trug, entfernt, ebenso der Verputz (Romanzementblombe).
Fazit: die "Geschichte mit dem Brotlaib" als mittelalterliches Normmaß entstand nach 1880 und wird im frühen 20. Jahrhundert bereits als historisches Faktum kolportiert. Es genügt also schon rund eine Generation und ein anscheinend natürlicher Hang des Menschen zur Verkomplizierung einfacher, technisch bedingter Sachverhalte, um zu scheinbar mehrfach abgesicherten Legenden zu kommen:
Die Kreisscheibe ist ein Faktum, der topographische Zusammenhang mit den Maßstäben ist nachweisbar, das "Bäckerschupfen" ist urkundlich belegt usw. usf.
Auch nach der Fachpublikation der Bauuntersuchungen, wo dieses Thema passim behandelt wurde, verbreitete die neue Generation der Fremdenführer die "Legende vom Brotlaib" verbissen weiter. Man wird noch heute zahllose "Gewährsmänner" - darunter Architekten, Stadthistoriker und andere - nennen können, die einem das überzeugend so erklären.
Erst seit Abschluß der Restaurierungen und der Entfernung der Mörtelscheibe kommen diese "Leute vom Fach" in Erklärungsnotstand. Selbst der Laie erkennt meist, daß das nur die Kratzspur eines Hakens ist. Allerdings taucht bereits die nächste Legende auf. Ich bringe sie nicht, weil ich nicht an ihrer Verbreitung mitarbeiten will.
Das Beispiel des Brotlaibes von St. Stephan zeigt, wie aus Fehlinterpretationen in sehr kurzer Zeit mündliche Scheinüberlieferungen werden.
Link: Bauarchäologisch-kunsthistorische Untersuchungen am Westbau von St. Stephan in Wien 1992 - 1997
8.01.2006
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