Kunsthistorikertag - Riesentor und Westanlage
Das Riesentor und die Westanlage von St. Stephan in Wien aus der Sicht der Bauforschung
Resumee zum Vortrag am 9. Österreichischen Kunsthistorikertag 16. - 19. Oktober 1997
Dr. Rudolf Koch, Wien
(Vorankündigung: Kunsthistoriker aktuell XIV. Jg., 1997, S. 1.)
Aus: Kunsthistoriker, Mitteilungen des österreichischen Kunsthistorikerverbandes Jg. 13/14, 1997/98: 9. Österreichischer Kunsthistorikertag in Wien (16. - 19. Oktober 1997, Sektion Bauforschung), S. 24 - 29. [Gesamtindex]
Einleitung
Der am 9. Österreichischen Kunsthistorikertag gehaltene Vortrag stellt die Zusammenfassung meines bauarchäologischen Berichtes dar, der gemeinsam mit den Untersuchungsergebnissen anderer Institutionen (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Kommission für Kunstgeschichte, Österreichisches Bundesdenkmalamt und Dombauhütte von St. Stephan) in Vorbereitung ist. Das Ergebnis beruht nicht zuletzt auf der intensiven Zusammenarbeit mit Archäologen, Geologen und Restauratoren.
Die romanische Westanlage als Gegenstand der Bauforschung (Abb. 1) (Abb. 2)
Die Geschichte der Bauforschung an St. Stephan in Wien kann auf eine Tradition von über 160 Jahren zurückblicken. Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb Eduard Melly erstmals eingehend die Bauplastik des Riesentores und die 1846 noch erkennbaren Fassungsreste. 1858 erfolgt durch Leopold Ernst (Dombaumeister 1858 - 1862) eine Untersuchung der gesamten Kirche auf Bauschäden. Mit Friedrich von Schmidt (Dombaumeister 1863 - 1891) beginnt der gezielte Einsatz von Methoden der Bauforschung für die Klärung der Baugeschichte. Allerdings führen diese Baubeobachtungen auch zum Plan einer "Reromanisierung" des Riesentores im Sinne des Historismus. 1882 entzündet sich an der von Schmidt vorgeschlagenen "stilgerechten Zurückführung des Domportales" die Diskussion um die sogenannte "Riesentorfrage", welche eingehende Untersuchungen des Riesentorkomplexes durch Paul Müller, Heinrich Swoboda und Joseph Mantuani bewirkte. Die Untersuchungen zur "Riesentorfrage" führten letztlich zu kontroversiellen Lösungen; das Problem der Reromanisierung wurde aufgrund einer geänderten Auffassung des Denkmalbegriffes 1903 als erledigt betrachtet.
Wesentliche Änderungen im Forschungsstand ergaben sich erst durch die Grabungen nach dem Dombrand von 1945. Karl Oettinger konnte im Bereich der Querhausvierung und im nördlichen Seitenschiff die Grundrißgestalt des vermeintlichen Erstbaus von 1137/47 und des spätromanischen Nachfolgebaus aus der Zeit um 1230/40 erschließen. Die ergänzenden Untersuchungen von Alois Kieslinger in den Erdgeschossen der Heidentürme ergaben, daß zumindest das Kernmauerwerk im Erdgeschoß noch aus dem 12. Jh. stammt. Die dort entdeckten Eckkonsolen wurden von Franz Kieslinger mit Würfelkapitellen in der Krypta von Gurk (Weihe 1174) in Verbindung gebracht. Joseph Zykan entwickelte die Hypothese einer vollständigen Verkleidung der älteren Heidentürme im 13. Jahrhundert, da die hochmittelalterlichen Teile der Westfassade ausschließlich eine Instrumentierung aus der Zeit ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts zeigen.
Eine völlig neue Beurteilung des Riesentores ergab sich aus den Bauuntersuchungen von Erika Doberer, welche aufgrund von stilistischen und strukturellen Unterschieden bei der Portalplastik den Vorbau einschließlich des Spitzbogens und Teilen der dort aufgestellten Plastiken als das Ergebnis einer historisierenden Umgestaltungsphase um 1500 interpretierte. Der gleichen Umgestaltung wären ihrer Ansicht nach außerdem die Figur des hl. Stephanus (bezeichnet 1500) und die spätgotischen Stabwerkskapitelle am Portalbogen zuzuordnen.
Fundamentuntersuchungen im Zuge des U-Bahn-Baus an der Westseite von St. Stephan im Jahre 1970 ergaben unerwartete Einblicke in baugeschichtliche Fakten, vor allem, daß die Fundamente des Riesentores älter als der Vorhallenbau selbst seien. Allerdings wurden diese Bodenuntersuchungen nur punktuell und im Sinne der Baustatik durchgeführt. Eine Korrektur der weitaus komplizierteren Archäologie ergab sich erst bei den jüngsten Grabungen.
Die Auswertung der Grabungen von 1970 erfolgte erst 1990 durch Ortolf Harl, der - gestützt auf die Hypothese Doberers - die gesamte Westanlage von St. Stephan einer Historisierungsphase um 1500 zuschrieb. Diese Hypothese konnte von Marlene Zykan aus kunsthistorischer Sicht in überzeugender Weise widerlegt werden.
Ab 1991 wurde erneut die Möglichkeit geschaffen, zunächst am Albertinischen Chor und 1992/93 an der Westfassade von St. Stephan systematische Untersuchungen mit den modernen Methoden der Bauforschung, der Kunstgeschichte und der Petrographie durchzuführen. Weitere geophysikalische Prospektionsmethoden (Ultraschall und Georadar) gelangten bei den Voruntersuchungen zur Restaurierung des Riesentores zum Einsatz. Die größte Überraschung bezüglich der Vorgängerbauten ergab sich jedoch aus den archäologischen Untersuchungen im Inneren des Riesentores und unter der Westempore.
Die Archäologie der Vorgängerbauten
Da die Auswertung dieser Ergebnisse noch im Gange und eine entsprechende Publikation in Vorbereitung ist, sei hier nur erwähnt, daß insgesamt mindestens vier romanische Phasen dem bestehenden Riesentorbau vorangegangen sind: Eine erste, kleinere Kirche, von der bisher nur der Friedhof ergraben wurde, ein turmloser Zweitbau mit Vorhalle, welche jedoch innerhalb des jetzigen Emporenbereichs lag, eine Erweiterung um eine erste Westturmanlage, eine rechteckige innere Vorhalle und schließlich der Fassadenbau, dessen älteste Reste A. Kieslinger in den Turmerdgeschossen festgestellt hatte. Wie es scheint, könnte der erste Kirchenbau noch aus einer Zeit vor 1137 stammen, dem Datum des sogenannten Tauschvertrages von Mautern, der bisher für den Baubeginn der ersten Stephanskirche herangezogen wurde.
Die baulichen Reste des 12. Jahrhunderts (vgl. Baualterplan Abb. 9)
Den ältesten Teil im Aufgehenden bilden die beiden Heidenturmuntergeschosse. Im Inneren der Heidentürme zeichnet sich ein Strukturwechsel im Mauerwerk ab, der höhenmäßig mit den erhaltenen Eckkonsolen der Turmkammern zusammenfällt und am Außenbau ungefähr in Höhe des Vorhallenfrieses aus dem 13. Jahrhundert verläuft.
Diese Würfelkonsolen (Abb. 3), welche stilistisch in das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts datiert werden können, trugen ursprünglich ein Kreuzgratgewölbe, das im 13. Jahrhundert beim Bau der Empore durch das bestehende Kreuzgratgewölbe ersetzt wurde. Bis zu diesen Würfelkonsolen wurde das Quadermauerwerk mit Preßfugen versetzt. Unter der nachmittelalterlichen Tünche sind außerdem die alten Bearbeitungsspuren mit der Steinhacke oder "Fläche" erkennbar, die in ihrer noch groben und großteils ungeordneten Hiebführung ebenfalls für eine Datierung des Quadermauerwerks ins 12. Jahrhundert spricht. Wichtig ist die Feststellung, daß die Quaderkanten unbeschädigt erhalten sind. In den spitzbogigen Schildflächen über den Würfelkonsolen sind die Quader mit breiteren Fugen auf Steinplättchen (Plattlschotter) versetzt. Diese Versatztechnik findet am Dom durchwegs erst ab dem 13. Jahrhundert und beim spätgotischen Mauerwerk Anwendung. Außerdem sind im Bereich oberhalb der Würfelkonsolen bei sämtlichen Quadern die Kanten ausgebrochen - ein Hinweis auf die Sekundärverwendung älteren Quadermaterials.
Da die Turmstümpfe demnach bis in rund 4 Meter Höhe noch aus dem 12. Jahrhundert stammen, stellte sich erneut die Frage nach der schon von J. Zykan gestellten Hypothese einer Fassadenummantelung im 13. Jahrhundert. Durch die Analyse älterer Domansichten aus der Zeit vor den Restaurierungen ab dem 3. Viertel des 19. Jahrhunderts konnte jedoch der Nachweis erbracht werden, daß die Sockelzone und die Basenprofile der Heidenturmuntergeschosse ursprünglich stilistisch ebenfalls Formen des letzten Viertels des 12. Jahrhunderts zeigten. Erst durch die "stilkorrigierende" Restaurierung des 19. Jahrhunderts wurde die Instrumentierung der Heidenturmuntergeschosse auf "Stilformen des 13. Jahrhunderts" verfälscht.
Eine originale Basis einer Wandvorlage aus dem 12. Jahrhundert wurde durch F. v. Schmidt an der Außenseite der Eligiuskapelle (Abb. 4) freigelegt und zeigt noch heute die nicht restaurierte Form. Weiters gehört dieser Bauetappe des 12. Jahrhunderts das Konzept mit den beiden mittleren Doppellisenen an.
Der Bau des Riesentores im 13. Jahrhundert (vgl. Baualterplan Abb. 9)
Der Baukörper der Riesentoranlage stammt aufgrund stilistischer Details erst aus dem 13. Jahrhundert. Die Anlage wurde bis in Höhe des äußeren Vorhallenfrieses zwischen die älteren Turmstümpfe aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts eingesetzt. Ob diese Doppelturmanlage des 12. Jahrhunderts beim Bau des 13. Jahrhunderts teilweise abgetragen wurde, oder ob die Turmstümpfe bis zum Zeitpunkt des Portalbau nur bis in diese Höhe gediehen waren, läßt sich derzeit aus den Befunden nicht erschließen.
Die zu erwartende Baufuge zwischen den Turmstümpfen der Heidentürme aus dem 12. Jahrhundert und dem unteren Teil der Vorhalle des Riesentores bis in Höhe des äußeren Vorhallenfrieses liegt unmittelbar an den Kanten der beiden inneren Lisenen der Heidentürme, wie durch eine Bildanalyse einer älteren Fotographie (Abb. 5) nachgewiesen werden konnte. Die Baufuge wird seit der Restaurierung der Vorlagen von der Verplattung des 19. Jahrhunderts verdeckt, konnte aber durch eine Untersuchung mit dem Georadar verifiziert werden. Die heute sichtbare Baufuge zwischen der Verplattung des 19. Jahrhunderts und den Mauerwangen der Riesentorvorhalle verläuft unmittelbar beim Mauerwerk des 13. Jahrhunderts.
Die Errichtung des Riesentores gehört dem ersten Bauabschnitt des 13. Jahrhunderts an. Nach Errichtung der Türpfosten und der Einsetzung des Tympanons wurde mit dem Bau des Stufenportals begonnen. Wie aus der älteren Forschung bereits bekannt ist, verwendete man - zumindest für den Kämpferfries - bereits vorgefertigte Ornamentstücke, die offensichtlich für eine andere Planung oder ein nicht ausgeführtes Portalprojekt bestimmt waren. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, Friesteile abrupt, teilweise durch die Bildszenen verlaufend, abzuschneiden und den geänderten Verhältnissen anzupassen. Gewisse Unsicherheiten und Unregelmäßigkeiten im Versatz der Werkstücke sind schon bei der Überlagerung der Türpfostenornamentik mit dem Kämpferfries festzustellen. Auch die beiden innersten Apostelfiguren gerieten zu nahe an das Tympanon, so daß sie im Norden beschnitten werden mußten (Nimbus) und im Süden das Tympanon hinter der Apostelfigur abgearbeitet wurde. Die damit zusammenhängenden Probleme und die Ergebnisse der Untersuchungen zur Bauplastik werden im Rahmen des Referats von F. Dahm behandelt.
Planwechsel am Riesentor und Bau des Emporengeschosses (vgl. Baualterplan Abb. 9)
Erst über dem äußeren Vorhallenfries und über den Turmstümpfen des 12. Jahrhunderts beginnt die einheitliche Überbauung mit der Portal- und Emporenanlage des 13. Jahrhunderts in voller Breite der Westfassade. Die Obergrenze dieser Bauetappe wird durch den zweiten Kleeblattfries markiert, wobei der Mittelteil der Fassade risalitartig über der Vorhalle bis in die vorderste Ebene der Lisenen vorgezogen wird. Die schon im 12. Jahrhundert angelegte Lisenengliederung wird so zu einer Art Kantenprofilierung degradiert. Zwischen den Teilen der Vorhalle über dem äußeren Vorhallenfries und der Fassadenwand ist keine Baufuge nachzuweisen (regulärer Kreuzverband der Quader!). Ab dem ersten Obergeschoß der Heidentürme wird außerdem der enge Rhythmus der Lisenengliederung des 12. Jahrhunderts (Doppellisenen in Achse der Heidentürme) aufgegeben - nach einem Planwechsel, zu dessen Konzept nun die großen spätromanischen Rundfenster im Emporengeschoß gehören. Das ältere Turmkonzept sah wohl nur eine mittlere Emporenanlage vor, während sich nun die Empore auch in die Turmkörper fortsetzte.
Der Planwechsel ab der Höhe des Portalfrieses kommt schon in der Gestaltung der Archivolten zum Ausdruck. Die innerste Archivolte (Abb. 6) zeigt einen übereckgestellten Rundbogenfries mit Lilien und besteht aus annähernd einheitlich großen Quadersegmenten, wobei die Stoßfuge im Scheitel eines Rundbogens beginnt, dann folgt ein kompletter Bogen mit Lilienbund und schließlich wieder ein halber Rundbogen. An der Südseite zeigt sich zunächst ein rhythmischer Wechsel in der Art, wie die Lilienblätter durch Bündchen zusammengehalten werden: glattes Bündchen, dreistriemiges Bündchen, diamantiertes Bündchen, dreistriemiges Bündchen. Ab dem dritten Block gibt es nur mehr diamantierte Bündchen. Daraus folgt, daß die Ornamentik der Archivolte zunächst mit einem rhythmischen Wechsel von diamantierten und dreistriemigen Bündchen geplant war, der jedoch nach einem Planwechsel ab dem dritten südlichen Block zugunsten einer monotonen Abfolge von diamantierten Bündchen aufgegeben wurde (Vereinfachung des Ornaments).
Ähnliches gilt für die zweite Archivolte (Abb. 7). Sie ist als übereckgestelltes Zackenband aus weitgehend freiplastisch gearbeiteten Rundstabprofilen ausgeführt, hinter denen ein tief unterschnittenes Birnstabprofil sichtbar wird. Frontal zum Portal betrachtet bilden die Zacken annähernd gleichseitige Dreiecke, bei den jeweils unteren drei Dreiecken folgt die Basis des Dreiecks der Krümmung der Archivolte, darüber haben die Dreiecke eine gerade Basis.
Die dritte Archivolte ist mit einem übereckgestellten, weitgehend freiplastisch gearbeiteten Rhombengitter ornamentiert. Dahinter verläuft wieder ein Birnstabprofil. Wie schon beim Lilienfries wird der ältere rhythmische Wechsel - hier gekehlte Rhomben und Rundstabrhomben - ab dem dritten Block zur monotonen Folge von gekehlten Rhomben reduziert.
Die vierte Archivolte (Abb. 8) zeigt ein Zackenband mit Perlzier und dahinter verlaufendem Birnstabprofil. Der Planwechsel erfolgt bereits nach dem jeweils ersten Block, wobei die Zacken hier nach unten zeigen, während die übrigen bis zum Bogenscheitel nach oben gerichtet sind. Außerdem ist das ältere Perlband kleiner und schärfer ausgearbeitet als das jüngeren.
Die fünfte Archivolte ist als gegenständiger Schnabelkopffries ausgeführt bzw. zeigt sogenannte "beak-heads". Den Hintergrund dieses raumgreifenden Motivs bildet eine breite Viertelkreiskehlung. Hier kann - wie bei den bisherigen Archivolten - ein beiderseitig ausgeprägter Wechsel von der rhythmisierten zur monotonen Ornamentform festgehalten werden. Volutenförmig eingerollte Schnabelkopfpaare wechseln mit zoomorphen Schnabelkopfpaaren ab. Ab dem jeweils vierten Block findet man nur mehr die nicht zoomorphe Form der Volute.
Allgemein formuliert, findet über dem Kämpfer- bzw. Vorhallenfries in der Ornamentik eine Vereinfachung statt. Dies kann auch beim jüngsten Teil des Portals, dem Vorhallenbau, festgestellt werden, indem dort die schwere "normannische" Dekorationsform zugunsten frühgotischer Profilierungen und Kapitelle aufgegeben wird. Da Portalbau und darüberliegendes Emporengeschoß eine bauliche Einheit bilden (keine Baufugen!), ist ein weitgehend kontinuierlicher Baufortschritt anzunehmen, der jedoch durch Planwechsel charakterisiert ist.
Fortführung des mittleren Fassadenteiles und Bau der Giebelgeschosse
Nach einem weiteren Planwechsel wird zunächst der Mittelteil der Fassadenwand auf volle Mittelschiffshöhe hochgezogen, wobei auf die Fortführung der lisenenartigen Kantenprofilierung verzichtet wird. Wieder kommt es zu einer Vereinfachung der Form. Erst dann werden an den Baukörper des Mittelschiffes bzw. der mittleren Empore die beiden Giebelgeschosse angebaut. Sie sind durch deutlich erkennbare Baufugen im Inneren von der Mittelschiffswand getrennt. Die Bauzäsur zeigt sich außerdem am Versatz bei den Lagerfugen am Außenbau zwischen unprofiliertem, mittleren Fassadenblock und herabgezogenem Giebelschenkel. In diesem Stadium des Ausbaus endete die Westanlage ohne prägnant über die Giebellinie des Mittelschiffs hervortretende Turmkörper. Ob damit gleichzeitig die ursprünglich vorerst geplante Endhöhe der Heidentürme erreicht war, muß offen bleiben.
Der spätromanische Fassadenkörper endet mit einem Rücksprung des Fassadenrisalits. Damit ist gleichzeitig die ursprüngliche maximale Höhe des spätromanischen Mittelschiffes markiert, wie aus einem in situ befindlichen Rest eines Dreipassfrieses an der Südostseite des spätromanischen Querhauses, der 1945 im Mauerwerk des südlichen Hochturmes gefunden wurde, abzuleiten ist. Auf diesem Mauerrücksprung ruht die aus dem 15. Jahrhundert stammende Fassadenwand des spätgotischen Hochschiffes auf, welche im zweiten Geschoß der oktogonalen Heidenturmaufsätze anschließt. Die ursprüngliche Höhenerstreckung des östlichen spätromanischen Emporenbaus ist von den gotischen Seitenschiffen aus an einem Strukturwechsel in der Quaderverkleidung der inneren Emporenwand erkennbar. Der überhöhte Ostteil der spätromanischen Empore reichte demnach etwa bis zum Gurtbogenansatz der spätgotischen Emporenseitenschiffe.
Bau der oktogonalen Heidenturmaufsätze (vgl. Baualterplan Abb. 9)
Der Vollendungsphase der Heidentürme gehören die oktogonalen Aufsätze an. Sie schlossen ursprünglich - im Gegensatz zu heute - mit ihren Eckgliederungen nicht an die Giebelschenkel des dritten Heidenturmobergeschosses an. Die Vereinheitlichung der Kantengliederung mit den Giebelschenkel ist erst auf die Restaurierung des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Damit wurde eine wichtige Bauzäsur verwischt.
Der Typus der spätromanischen Westanlage scheint dem erhaltenen Bestand an hochmittelalterlichen Denkmälern nach vor allem in Niederösterreich nachweisbar zu sein. Als Beispiele für diesen eigenartigen Bautypus der romanischen Westanlage von St. Stephan sind die Westbauten der Wiener Schottenkirche aus der 2. Hälfte 12. Jahrhunderts, deren nur bildlich überlieferte Westqueranlage keine aufgesetzte Turmkörper hatte, die Westanlage des Domes von St. Pölten aus dem 1. Viertel des 13. Jahrhundert (Erweiterung einer älteren Doppelturmanlage) und die Westanlage der Liebfrauenkirche von Wiener Neustadt aus der 1. Hälfte 13. Jahrhundert zu nennen. Das wesentlichste gemeinsame Merkmal dieser Westanlagen ist das überhöhte östliche Emporenjoch, welches dem Baukörper ein "westwerkartiges" Gepräge verleiht. Darin unterscheidet sich auch die spätromanische Westanlage von St. Stephan von der Westanlage des Passauer Domes, die durch einen barocken Stich überliefert ist. Es wäre interessant, diesen Typus mit den Ergebnissen einer zukünftigen Grabung in St. Stephan zu vergleichen, denn die bisherigen Bauuntersuchungen am Wiener Dom konnten nur einen Beitrag zu den Bauten des ausgehenden 12. und 13. Jahrhunderts bieten.
Entweder nach dem Brand von 1258 oder von 1276 wurde zumindest der südliche Heidenturm um ein "attikaartiges" Geschoß erhöht und der Turmhelm erneuert, so daß die gesamte Westanlage frühestens vor 1258, spätestens vor 1276 vollendet war. Diese Turmhelme bestehen aus Mauerziegeln, deren äußere Binderflächen polychrom glasiert sind. Im 15. Jahrhundert wurden diese spätromanischen Ziegelhelme in der heute sichtbaren spätgotischen Instrumentierung mit Steinplatten verkleidet, welche im 19. Jahrhundert erneuert werden mußten.
Literaturhinweise (Auswahl)
- E. Melly, Das Westportal des Domes zu Wien, in seinen Bildwerken und ihrer Bemalung, Wien 1850.
- F. Schmidt, Das Riesenthor des Domes zu St. Stephan in Wien, in: WDBVBl, II. Jg., 1882, S. 37.
- P. Müller, Das Riesenthor des St. Stephansdomes zu Wien. Seine Beschreibung und seine Geschichte, Innsbruck 1883 (Sonderdruck).
- H. Swoboda, Zur Lösung der Riesentorfrage. Das Riesentor des Wiener St. Stefansdomes und seine Restaurierung, Wien 1902.
- J. Mantuani, Das Riesentor zu St. Stephan in Wien und Fr. v. Schmidts Projekt für dessen Wiederherstellung. Randglossen zu Dr. Heinrich Swobodas Schrift: "Zur Lösung der Riesentorfrage", Wien 1903.
- K. Oettinger, Die Grabungen von St. Stephan 1945 - 1948, in: Mitteilungen des Institutes für österreichische Geschichtsforschung, LVII. Bd., 1949, S. 339ff.
- A. Kieslinger, Die Steine von St. Stephan, Wien 1949.
- F. Kieslinger, Unser Dom. Bemerkungen über sein mittelalterliches Werden und seine Schöpfer, Wien 1952 (Sonderdruck).
- E. Doberer, Der plastische Schmuck am Vorbau des Riesentores, in: Festschrift Karl Oettinger, Erlanger Forschungen A 20, 1967, S. 353ff.
- J. Zykan, Das romanische "Westwerk" von St. Stephan in neuer Sicht nach den Fundamentuntersuchungen des Jahres 1970, in: Mittn. der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung, Jg. 24, 1972, Nr. 3, S. 14ff.
- M. Zykan, Der Stephansdom (= Wiener Geschichts-bücher Bd. 26/27), Wien - Hamburg 1981 (mit ausführlicher Bibliographie).
- O. Harl, Archäologische Beiträge zur Baugeschichte des Westwerks von St. Stephan in Wien, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, XLIV, 1990, S. 39ff.
- M. Zykan, Der Westbau von St. Stephan. Zur Forschungslage und aktuellen Problematik, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, XLIV, 1990, S. 47ff.
- E. Bacher, Bauforschung in St. Stephan, in: Der Dom, Mitteilungsblatt des Wiener Domerhaltungsvereines, Folge 1, 1992
- M. Schwarz, Die Vorbildwirkung des Passauer Domes auf die österreichische Architektur des Hochmittelalters, in: K. Möseneder (Hrsg.), Kunst in Passau. Von der Romanik zur Gegenwart, Passau 1993, S. 9ff.
- H. W. Müller, A. Rohatsch, B. Schwaighofer, F. Ottner und A. Thinschmidt, Gesteinsbestand in der Bausubstanz der Westfasade und des Albertinischen Chores von St. Stephan, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 47, 1993, S.106 ff.
- R. Koch, Ergebnisse der Bauuntersuchungen an der Westfassade von St. Stephan 1992/93, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 47, 1993, S.116 ff.
- R. Koch, Vorbericht zu den Bauuntersuchungen im südlichen Heidenturm von St. Stephan, in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 47, 1993, S. 129ff.
- R. Koch, Bericht über die aktuelle Bauforschung an St. Stephan in Wien (1992 - 1994), in: Anzeiger der phil.-hist. Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 131. Jahrgang 1994, S. 285 ff.
- R. Koch, Zum Stand der Bauforschung an St. Stephan, in: Der Dom, Mitteilungsblatt des Wiener Domerhaltungsvereines, Heft 1, 1994, S 1 ff.
ABBILDUNGEN
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Abb. 1: Wien, St. Stephan, Westansicht; Kupferstich von Carl Schütz, 1792 (Bildarchiv BDA-Wien)
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Abb. 2: Wien, St. Stephan, Querschnitt durch die Westanlage, Bauaufnahme von Michael Engelhart 1930 (Bildarchiv BDA Wien)
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Abb. 3: Wien, St. Stephan, Erdgeschoßkammer des nördlichen Heidenturms, Nordostecke. Links Würfelkonsole des 12. Jahrhunderts mit Gewölbe des 13. Jahrhunderts. Das romanische Fenster in der Nordwand wurde im 14. Jahrhundert abgemauert (Erbauung der Tirnakapelle) und später nach unten als Nische erweitert (R. Koch).
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Abb. 4: Wien, St. Stephan, Eligiuskapelle; Von Friedrich v. Schmidt freigelegte romanische Wandvorlage des südlichen Seitenschiffs (R. Koch)
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Abb. 5: Wien, St. Stephan, Riesentor, Südostecke (um 1881). Die Aufnahme zeigt die Baunaht zwischen dem Riesentor des 13. Jahrhunderts und der älteren Wandvorlage des 12. Jahrhunderts. Die Stelle ist heute von der Verplattung des 19. Jahrhunderts verdeckt (Bildarchiv BDA-Wien).
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Abb. 6: Wien, St. Stephan, Riesentor, innerste Archivolte, Südseite. Die Aufnahme wurde während der jüngsten Restaurierungen gemacht und zeigt den rhythmischen Wechsel der älteren Phase (R. Koch)
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Abb. 7: Wien, St. Stephan, Riesentor, 2. und 3. Archivolte, Nordseite. Der Übergang vom älteren Konzept zur Vereinfachung des Ornaments beginnt ab dem 3. Block. (R. Koch).
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Abb. 8: Wien, St. Stephan, Riesentor, 4. und 5. Archivolte, Nordseite. Die älteren Phase endet beim Zackenfries nach dem ersten, beim Schnabelkopffries nach dem 4. Block (R. Koch).
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Abb. 9: Wien, St. Stephan, Westfassade mit den romanischen Bauetappen (Plangrundlage H. Müller, Inst. für Baugeologie an der Universität für Bodenkultur, Wien; Baualterphasen R. Koch).
ABBILDUNGSNACHWEIS
Abb. 1, 2, 5: BDA, Wien; Plangrundlage für Abb. 9: H. W. Müller et. al, Abteilung Baugeologie der Univ. f. Bodenkultur Wien.
Alle übrigen Aufnahmen: Rudolf Koch, Wien.
ABBILDUNGSNACHWEIS
(Ankündigung des Vortrags im Kunsthistoriker aktuell)
Das Riesentor und die Westanlage von St. Stephan in Wien aus der Sicht der Bauforschung.
Rudolf Koch
Aus: Kunsthistoriker aktuell XIV. Jg., 1997, S. 1 [Gesamtindex]
Der Dom von St. Stephan, insbesondere die Westanlage und das Riesentor, sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Gegenstand intensiver “bauarchäologischer“ Forschungen. Erfolgten zunächst bauanalytische Untersuchungen durch den Dombaumeister Friedrich von Schmidt, die von dringend notwendigen restauratorischen Maßnahmen geprägt waren, so verlagerte sich bald der Schwerpunkt auf die sogenannte “Riesentorfrage“. Dabei standen stilistische und ikonographische Fragestellungen im Mittelpunkt. Erst nach den Zerstörungen von 1945 und später beim Bau der U-Bahn wurde wieder die Problematik der historischen und der archäologischen Bauforschung relevant. Im Zuge diesbezüglicher Projekte konnten seit 1992 wesentliche und zum Teil unerwartete neue Aspekte über die bauliche Entwicklung der Westanlage und des Riesentores erarbeitet und deren Genese vom 12. bis ins 19. Jahrhundert durch den Einsatz verschiedenster Disziplinen (Naturwissenschaft /Petrographie, Ultraschall, Georadar; Feldarchäologie / Grabung im Bereich des Riesentores; Bauanalyse / Einbeziehung von Gefüge- und Strukturwechsel, Steinbearbeitung, Versatztechnik) stärker differenziert werden. Die so erfaßten vier romanischen und zwei gotischen Bauphasen sowie die barocken und historisierenden Eingriffe ergeben ein durch geschoßweise Planwechsel und Umbauphasen geprägtes Entstehungbild, welches im Vortrag zusammenfassend dargestellt werden soll.
Ad personam:
Dr. phil. Rudolf Koch, Studium der Kunstgeschichte und klassischen Archäologie an der Universität Wien. Studium der Mittelalterarchäologie im Rahmen der Ur- und Frühgeschichte. Promotion 1986. Mehrjährige Grabungstätigkeit im In- und Ausland. Mitarbeiter am Forschungsfondsprojekt "Romanische Architektur in Österreich" der Östereichischen Akademie der Wissenschaften, Kommission für Kunstgeschichte. Seit 1986 Tätigkeit in der Bauforschung. Lektorate für Mittelalterarchäologie und Bauarchäologie (Universität und TU-Wien).
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