Westturmanlage - Karolingische Westanlage
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27 DIE KAROLINGISCHE WESTANLAGE
Der erste karolingische Bau, die Krönungskirche Pippin des Kurzen, St. Denis, welcher Ansätze zu einer Westanlage zeigt, ist, wie E. LEHMANN (1965) 1) meint, nur in groben Umrissen faßbar. Die archäologisch-kunsthistorischen Untersuchungen lassen zwar erkennen, daß der Bau Abt Fulrads (749 - 784) im Sinne einer ersten "mittelalterlichen Kopie" auf die konstantinische Peterskirche in Rom zurückgreift, aber gerade die Frage des Westabschlusses läßt sich trotz der Arbeiten von S. M. CROSBY (1953) 2) und J. FORMIGE (1960) 3) nicht klar entscheiden. Der in den Fundamenten teilweise unter Taf.12/3 suchte Westbau der Fulrad-Kirche zeigt zwar einen Westchor mit dem Grab des Hl. Dionysius - eine Wiederholung der Disposition von Alt-St. Peter mit der Confessio Petri - und massive quadratische Flankenbauten, aber die Rekonstruktion des Aufrisses als Vorstufe eines Westwerks bleibt unsicher. Diesen Bauteil als westliche Fassade mit Türmen anzusprechen dürfte wenig zutreffend sein, handelt es sich doch um eine zwar architektonisch aufwendige Lösung, aber eben um einen Westchor ohne direkten Durchgang zum Kirchenschiff. Darin unterscheidet sich die Anlage wesentlich von dem, was die kunsthistorische Forschung unter "Westwerk" oder der Vor-stufe dazu versteht. 4)
Die Aachener Pfalzkapelle besitzt als frühester erhaltener karolingischer Bau eine voll ausgebildete Westfassade mit Taf. 7, Mittelturm und flankierenden Treppentürmen. Sie stellt nicht Taf. 8 nur eine ausgereifte Lösung dieses Problems vor, sondern bildet den Ausgangspunkt der betürmten28 abendländischen Westanlage. Seit der Beschreibung F. NOLTENs (1818) steht der polygonale Zentralbau mit westlicher Turmfront und davorliegendem Atrium ebenso im Mittelpunkt der Forschung, wie die anschließenden Bauten der Pfalz mit Aula, Verbindungsgang, Taf.8/2 Querbau und den beiden apsidial geschlossenen Annexbauten. 5) Die Zusammenfassung der Baugeschichte, vor allem die Diskussion der jüngsten archäologischen Befunde bei F. KREUSCH (1965) 6), ermöglicht nähere Aussagen über die Gestalt des gesamten Westkomplexes (Turmanlage und Atrium), zu dem H. VETTERS (1970) 7) einen Beitrag für die Ableitung aus der spätantiken Kaiserzeremonie lieferte. Taf.7/2
Dem Sechzehneck des Zentralbaus mit ausgeprägter West-Ost-Achse Taf. 7 ist ein quadratischer Turm mit seitlichen runden Treppentürmen an der Eingangsfront vorgestellt, welcher im Erdgeschoß die Eingangshalle birgt und darüber einen hohen Raum, der, durch eine Säulenstellung getrennt, auf die sog. Kaiserempore mit dem Thron Karl d. Großen führt. Dieser Raumteil ist über die beiden Treppentürme und die Empore erreichbar. Während der nördl. Treppenturm sowohl im Erdgeschoß als auch direkt vom Verbindungsgang zur Aula betretbar Taf.8/2 ist, kommuniziert der südl. Treppenturm nur mit dem Inneren des Zentralbaus. Das Obergeschoß des westl. Turmraumes reicht über die beiden Scheingeschosse der Empore hinaus, wobei seiner Höhe am Außenbau eine durchgehende flache Nische entspricht. Ein umlaufendes Gesims in Höhe des Dachansatzes der Empore bildet den Beginn des Nischenrundbogens, der vom Dreieck des Turmdaches abgeschlossen wird. Die beiden Taf.7/1 Taf.8/3
29Treppentürme reichen noch ein Geschoß über das Gesims hinaus und sind damit höher als die Dachzone des Emporenkranzes. Soweit ist die karolingische Westanlage durch den Baubefund gesichert. F. KREUSCH (1965) 8) rekonstruiert über dem Mittelturm Taf.8/4 ein schmäleres einstöckiges Glockengeschoß, das durch einen Baubefund und die Ansicht der Pfalzkapelle Taf.8/1 am Dach des Karlechreins von 1215 gestützt wird. Der Glockenturm wäre nach F. KREUSCH ursprünglich über die beiden Treppentürme und einen gewölbten Raum betretbar gewesen, doch haben spätere Veränderungen und Umbauten nachprüfbare Anhaltspunkte für diese Hypothese verwischt. Die Nennung von Glocken spricht jedenfalls für die generelle Richtigkeit der Hypothese, außerdem wurden beim Neubau des Turmes 1879 abgebrochene Mauern eines älteren Turmes beobachtet. 9) Faßt man die Befunde der Baukernanalyse und die Rekonstruktion zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:
1. Der Westbau des Aachener Münsters ist eine komplexe Dreiturmanlage, die sich im Grundriß, noch mehr aber im Aufriß vom Zentralbau absetzt und einen zweiten Vertikalakzent gegenüber der aufgipfelnden Baumasse der eigentlichen Kirche bildet. Dieses additive Verhältnis von Turmanlage und Hauptbau wurde auch in späteren Darstellungen (Karlsschrein) als solches aufgefaßt. Lediglich in den unteren Teilen wird die Westanlage durch die beiden Treppentürme stärker an den Hauptbau gebunden.
2. Durch die hohe Rundbogennische und das Eingangsportal bildet die Westanlage eine monumentale geschlossene Fassadenarchitektur mit stark vertikalem Akzent. Darin 30 unterscheidet sie sich von allen bisherigen "Turmfassaden", wie z. B. den syrischen, die breit gelagert und durch Risalite geöffnet werden.
3. Der Innenraum des Mittelturms zerfällt in zwei horizontale Abschnitte, eine untere Durchgangshalle und einen oberen tonnengewölbten Raum, der mit dem Bereich der Empore kommuniziert, vor allem mit dem bedeutenden Ort der Kaiserloge. Der Mittelturm wird damit nicht als Treppen- oder Glockenturm verstanden, sondern als Teil des oberen "Kaiserbezirkes".
4. Der Westteil steht mit der Aula der Pfalz in Verbindung.
Die gleichzeitige Errichtung von Zentralbau und Westbau wurde von J. BUCHKREMER (1947) 10) aufgrund einer Baufuge im Fundament bezweifelt. F. KREUSCH (1965) 11) argumentiert überzeugend dagegen, nimmt jedoch eine Änderung im Bauplan an. Diese betrifft vor allem den westl. Raum hinter der Kaiserloge. Seiner Ansicht nach stand der Westbau bereits zum Zeitpunkt der Planung fest. Die Überhöhung und Wölbung des Westraums führt zu einer engen Bindung von Turmbau und Zentralbau. Daß dem Westbau nicht der Charakter einer selbständigen Anlage anhaftet, wie F. KREUSCH (1965) meint, trifft aber meiner Meinung nach nur für den Innenbau zu, nicht für die äußere Gestalt und seine Fassadenwirkung.
Die Wirkung der Außenerscheinung, d. h. der Turmfassade, entspricht heute nicht dem ursprünglichen Konzept. Von besonderer Bedeutung ist die Form des Atriums. Die Grabungen von 1964 31 haben bewiesen, daß das erste Atrium am Ostende in zwei Taf.7/2 Konchen endete, die nicht - wie ursprünglich angenommen wurde - im Planungsstadium steckenblieben, sondern zur Gänze hochgeführt wurden. 12) Dadurch ergibt sich als Rekonstruktion Taf.8/4 ein östl. Trikonchos, der von zwei niedrigen Konchen am Atrium und der hohen Westnische des Mittelturms gebildet wird. In einer zweiten Phase wurde das Atrium umgebaut, sodaß sich ein rechteckig geschlossener Hof ergab. über die damit verbundenen Veränderungen der beiden seitlichen Konchen konnte die archäologische Erforschung noch keine exakten Ergebnisse erbringen. Zeitlich versucht H. BEUMANN (1967) 13) diesen Umbau mit einer Notwendigkeit nach den Normanneneinfällen von 882 zu begründen. Festzuhalten ist, daß bereits das Atrium II das Konzept Karl d. Großen für den Komplex Trikonchos-Westanlage zerstörte.
Die Frage nach den Vorbildern für die Gesamtlösung des Westkomplexes (Atrium, Trikonchos u. Westanlage) würde man zunächst im gleichen Umkreis wie die des Zentralbaus suchen, doch hat schon E. LEHMANN (1965) 14) erkannt, daß Westkomplex und Zentralbau verschiedene Wurzeln haben müssen. Für den Zentralbau hat G. BANDMANN (1965) 15) das Problem der Ableitung zusammengefaßt, wobei er Vorschläge der älteren Literatur (Herrschermausoleen an Alt-St. Peter, St. Gereon in Köln, die Daurade in Toulouse, S. Sophia in Benevent, S. Vitale in Ravenna, die Sergios und Bacchoskirche in Konstantinopel, S. Lorenzo in Mailand, den Umbau des Galerius-Mausoleums in Saloniki, die Rekonstruktion des Chrisotriklinos im Großen Palast von Konstantinopel und die Zentralbauten in Jerusalem) diskutiert.
32All diese Beispiele haben keinen mit Aachen vergleichbaren Westbau, mit Ausnahme von S. Vitale in Ravenna. Aber diese Taf. 5 Kirche, ursprünglich als unmittelbares Vorbild für Aachen angesehen, unterscheidet sich vor allem im Aufriß wesentlich vom Konzept der Aachener Pfalzkapelle. 16) Wohl ist die Grundrißanlage von S. Vitale in gewissem Sinne mit Aachen vergleich-bar, schon die Zweigeschossigkeit Aachens scheidet das Vorbild S. Vitale aber aus. Ähnliches gilt auch für die "Westanlage" in S. Vitale. Der Narthex mit zwei Exedren, davorliegendem Atrium und angefügten flankierenden Treppentürmen wirkt zwar als eigene Baugruppe gegenüber dem Oktogon - man beachte die Bindung der Treppentürme an die Vorhalle und nicht an den Zentralbau -,jedoch ist dies nur am Grundriß ablesbar. Außerdem sind die beiden Konchen innerhalb der Vorhalle und gehören nicht zum Atrium. Wenngleich der Ostabschluß des Atriums I in Aachen nicht geklärt werden konnte, ist eine Lösung wie in Ravenna auszuschließen. Für die Möglichkeit einer turmartig überhöhten Umsetzung der Eingangsfront von S. Vitale in Aachen durch Karl d. Großen fehlt es an Argumenten.
F. KREUSCH (1965) hat weiters für die Disposition des Atriums I mit seinen Nischen auf die in Resten erhaltenen Anlagen von Taf.7/2 S. Lorenzo in Mailand, den Quernarthex von S. Constanza und Taf.2/2 das Lateransbaptisterium in Rom und auf den Vorhof von Balbeek verwiesen. 17) Am ehesten hält er noch S. Lorenzo in Mailand als Vorbild für möglich, bemerkt jedoch richtig das Fehlen der Mittelnische. Schließlich faßt er das Atrium I mit der Dreikonchen-Anlage als "basilica discoperta" im Sinne E. DYGGVEs (1940) mit einer "aufgeklappten Kulisse" als Ostabschluß, "die über die Fassade hinaus das Drama ins Proszenium 33 trägt", auf. 18)
G. BANDMANN (1951 und 1965) 19) leitet den Westbau - zunächst noch in Unkenntnis der beiden Seitenkonchen - vom antiken Nischentor ab und vergleicht den Aachener Westteil mit Lösungen wie in Leptis Magna und bei den Kaiserthermen in Trier. Später zieht er als nähere Vergleiche Motive wie die Front des Exarchenpalastes in Ravenna und die antike Skene Frons, die manchmal ein Kaiserstandbild zeigte, heran. 20) Eine weitere Wurzel erkennt BANDMANN in spätantiken und mittelalterlichen Stadttoren, so auch in den Tortürmen mit durchgehender Nische der Theodosianischen Stadtmauer von Konstantinopel, auf die schon F. KRISCHEN (1933) 21) hinwies. Die Westanlage von Aachen ist demnach mit dem Stadttormotiv und dem imperialen Kult verbunden und fernerhin ein "Erscheinungsort'innerhalb eines geöffneten Zentralraumes. 22)
Die Vergleiche bei G. BANDMANN (1965) betreffen jedoch nur den allg. Symbolcharakter des Einzelmotivs (Turm, Nische), nicht aber die tatsächliche architektonische Lösung, denn in Leptis Magna ist die Zuordnung der Exedra zur quergelagerten Basilika nicht mit Aachen vergleichbar. Gleiches gilt für die Kaiserthermen, wo die Exedra vor dem Atrium liegt und noch dazu durch einen Narthex verstellt wird. Die Front des Exarchenpalastes und etwa die Frons Skene von Orange haben zwar eine Rundbogennische, nur läuft die-se nicht bis zum Boden durch. Weiters fehlt es allen Bei-spielen an Türmen. Gänzlich vernachlässigt wird durch die einseitige Konzentration auf die Ableitung der Turmnische die Existenz des als Einheit aufzufassenden Trikonchos.
34 Die zweite mögliche Ableitung der Westanlage von Aachen ist das Stadttormotiv mit Türmen. Die zahlreichen Beispiele von Münz- und Siegeldarstellungen sowie die erhaltenen antiken Stadtmauern lassen, wie E. B. SMITH (1956) 23) aufzeigte, keinen Zweifel über den Symbolcharakter dieses Motivs auf-kommen. Als unmittelbar formales Vorbild für Aachen fallen sie jedoch aus, da sie meist Doppelturmanlagen mit dazwischenliegendem Tor zeigen. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur Dreiturmanlage der Pfalzkapelle, die gerade die seitlichen "Doppeltürme" zurücknimmt und den Mittelturm in den Vordergrund schiebt, also quasi die Umkehrung des Gliederungssystems der Fassade. Dieser Umstand sollte bei der Interpretation der Dreiturmanlage als "Stadttor der himmlischen Stadt" beachtet werden. 24)
Direkt vergleichbare Vorstufen zum Gesamtkomplex der Aachener Westanlage konnten bisher nicht gefunden werden. Damit wird das gleiche Problem angesprochen, das schon bei der Ableitung des Zentralbaus aufgetreten ist. Wie auch hier, wurden verschiedene Einzelmomente und Lösungen der spätantiken und byzantinischen Vorbilder zu einem neuen Ganzen vereinigt, dessen hohes Niveau nur aus der speziellen Einstellung der karolingischen Renovatio erklärbar ist. Im Westbau von Aachen verbindet sich das Hoheitsmotiv der Konchen- bzw. Exedrenarchitektur mit dem des Turmes an einer Palastkirche, wie es vorher nicht nachweisbar ist.
H. VETTERS (1970) 25) versuchte, eine Verbindung zwischen dem spätantiken Herrscherzeremoniell und den karolingischen Westwerken über die Zwischenstufe des Aachener Westbaus herzustellen,35 die zumindest für die Wahl der Abfolge von Atrium, Trikonchos, Turmanlage und Zentralbau eine Erklärung ermöglicht. Ausgangspunkt seiner Abhandlung ist die feste Abfolge von mit Säulen eingefaßtem Platz, erhöhtem Tribunal, Triporticus und anschließendem Raum für das Consilium, die bei der kaiserlichen Repräsentation in der Spätantike eine Rolle spielte. 26) Das Tribunal als erhöhter Platz dient dazu, den Kaiser "in seiner 'maiestas' dem Volke" zu zeigen. Es wird auf das Bei-spiel des Diokletian-Palastes in Split verwiesen, wo auf das Pseudoperistyl mit anschließendem Kuppelvestibül das dreischiffige Triclinum folgt, wobei der Kaiser bei der Repräsentation unter dem bekannten Bogen steht, einem Hoheitsmotiv, das unter anderem auf dem Theodosiusmissorium dargestellt wird und mit dem Motiv der halbrunden Nische zu vergleichen ist. Das gleiche Prinzip der Raumabfolge wirkt auf den byzantinischen Palast in Konstantinopel ein, bei dem die sog. "Chalke", ein Torbau mit Türmen, im Zeremoniell von Bedeutung ist. 27)
Gestützt auf die Beschreibung des Theoderichpalastes in Ravenna im Liber Pontificalis des Agnellus und die Befunde der Ausgrabungen im Wohnbezirk folgert H. VETTERS (1970), daß der Theoderichpalast nicht nur der grundsätzlichen Raumdisposition des Palastes in Konstantinopel folgt, sondern auch als unmittelbares Vorbild für die Anlage in Aachen zur Zeit Karls d. Großen gelten kann. 28) Er weist auf den Umstand hin, daß der apsidiale Saal des Tribunals in Ravenna Taf .10/1 nach dem Ende der Gotenherrschaft zu einer Salvatorkirche Taf.9/1 Taf. 9/2 36 umgebaut wurde. Dies bedeutet, daß Karl d. Große im Exarchenpalast von Ravenna die Abfolge von Toranlage mit seitlichen Treppentürmen (Chalke), Atrium und Tribunal mit dahinterliegendem Triclinum vorfand, wobei das Triclinum aber bereits durch Agnellus zur Salvatorkirche umgebaut worden war. Indem sich Karl d. Große von Ravenna inspirieren läßt, wo nach H. VETTERS (1970) die Raumabfolge auf die Erfordernisse bei der kaiserlichen Repräsentation abgestimmt ist, greift der Kaiser indirekt auf Konstantinopel und die Spätantike zurück. 29)
Für diese Art der karolingischen Renovatio führt H. VETTERS (1970) 30) in weiterer Folge Lorsch an, wo er die Fundamente des Westwerks als Unterbau eines Tribunals deutet und die Taf.10/2 westliche Doppelturmanlage, die durch ein Atrium vom Haupt-bau getrennt wird, mit der Chalke in Verbindung bringt. Von hier aus lassen sich seiner Meinung nach auch spätere Anlagen mit einem durch ein Atrium getrennten Westvorbau erklären, wie z. B. St. Emmeram in Regensburg, St. Gallen (Klosterplan), St. Castor in Koblenz, St. Peter in Hirsau, Paulinzella und Cluny III. Taf.11/3
Für die Anordnung der einzelnen Gebäudekomplexe in Aachen fällt zunächst sofort auf, daß hier die Verhältnisse genau umgekehrt wie in Ravenna und Konstantinopel sind. Das Atrium liegt in Aachen vor dem "Tribunal" (Trikonchos) und dahinter die "Chalke" (Dreiturmanlage), auf die dann erst die Salvatorkirche (Zentralbau) folgt. Der Grundidee der kaiserlichen Repräsentation wird dadurch jedoch kein Abbruch getan, da sie durch einen anderen Ablauf der Repräsentation unter Karl d. Großen bedingt sein kann. Dies läßt sich aus dem 37 Krönungszeremoniell Ottos I. von 936 rückschließen, der, wie bei P. E. SCHRAMM (1954) und H. BEUMANN (1967) erörtert, zunächst auf einem Thron im "Paradies" vor dem Münster die "Wahl der Fürsten und ihre Huldigungen" empfing und dann, mit Salbung und Investitur versehen, auf dem Steinthron Karls d. Großen Platz nahm. 31)
Die "richtige" Abfolge der Gebäudekomplexe findet sich hingegen im Reichskloster Lorsch, wenn man der Rekonstruktion des westlichen Fundamentrostes bei H. VETTERS (1970) 32) folgt und ihn entgegen den Meinungen von F. BEHN (1934) 33) und K. J. MINST (1949) 34) nicht als Westchor bzw. nach Taf. 10/2 H. WALBE (1950) 35) als Westwerk interpretiert, sondern als Unterbau eines Tribunals. Die "Chalke" wäre dann mit den beiden Doppeltürmen am Westende des Atriums zu identifizieren.
H. VETTERS (1970) impliziert damit, daß sowohl bei der Pfalzkapelle in Aachen als auch in Lorsch die gleiche Zeremonie der kaiserlichen Repräsentation vollzogen wurde, die als ikonologischer Faktor die Abfolge der einzelnen Gebäudekomplexe bedingte. Außerdem führt er die Folgebauten ab St. Emmeram in Regensburg bis Cluny III bezüglich der "Westwerke" auf Lorsch zurück. 36) Tatsächlich aber ist Aachen eine Pfalzkapelle und Lorsch eine Reichsabtei, die eine andere Funktion hatte, was darauf schließen läßt, daß die Rolle des Kaisers und seiner Repräsentation nicht die gleiche sein konnte. Außerdem beruft sich der Taf. 11/3 Autor auf die Zusammenstellung der Baudenkmäler bei F. BEHN (1934) undübersiehtdie gesamte weitere Kunstgeschichtsforschung 38 über diese Objekte und die Westwerke. 37) Schon das Faktum, daß die karolingische Königshalle in Lorsch, wie G. BINDING (1977) 38) nachgewiesen hat, eine Funktion übernahm, welche der Chalke bei H. VETTERS vergleichbar ist und überdies mit der Kirche der ersten Bauphase um 774 als zeitgleich erkannt wurde, gibt zu denken. Die Doppelturmanlage entstand nach K. J. MINST (1949) 800 bis 876, nach H. WALBE (1950) 882 bis 1090 und nach W. SELZER (1955) 800 bis 876, also sicher erst nach dem Gründungsbau und wahrscheinlich erst im 9. Jhdt. 39)
Formal läßt die Doppelturmanlage von Lorsch II weniger an eine gleiche zeremoniell bedingte Wurzel mit Aachen im Taf.10/2 Sinne von H. VETTERS denken, sondern an den Typus der Atriumstürme, wie sie als Vorform bei S. Maria in Turris Taf. 6 bei Alt-St. Peter auftreten. Auch am Klosterplan von St. Gallen, der als eine Kopie um 830 angesehen werden kann, finden sich Atriumstürme, hier jedoch in der Sonderform des Ringatriums. 40) Die Verbindung von Atriumstürmen mit Klöstern im Wirkungskreis des karolingischen Hofes dürfte ein eigener Typus sein, der eine weitere architektonische Möglichkeit imperialen Bauens neben der Pfalzkapelle, dem Reichskloster Lorsch und den Westwerken darstellt. Es ist bezeichnend, daß dieser Typus erst nach dem Tod Karls d. Großen durch Umbau in Lorsch zur Anwendung gelangt und damit eine Akzentverschiebung von der Königshalle aus der Zeit Karls d. Großen zur späteren Doppelturmfront bewirkt bzw. die Abfolge von Chalke, Atrium und Tribunal verändert.
39 Die späteren Beispiele des 11. Jhdts. ab St. Peter in Hirsau sind aus der hirsauisch-cluniazensischen Reformbewegung erklärbar, die nicht auf karolingische, sondern auf römisch-frühchristliche Vorbilder zurückgreift. 41) Die Doppelturmanlage von St. Emmeram in Regensburg ist eine Rekonstruktion ohne bauliche Grundlage von F. SCHWÄBL (1919), die unkritisch von F. BEHN (1934) übernommen wurde und als erwiesene Tatsache in die ältere Literatur eingeflossen ist. 42)
Die Zusammenstellung von Atrium mit Trikonchos und Torturm, wie sie in Aachen nachzuweisen und in veränderter Form in Lorsch I zu erkennen ist, dürfte mit H. VETTERS (1970) ihre Wurzeln in der Zeremonie der spätantiken und byzantinischen kaiserlichen Repräsentation haben, wenngleich die direkte Ableitung vom Exarchenpalast in Ravenna zu eng gesehen wird. Wie die späteren Umbauten an den Atrien von Aachen und Lorsch nahelegen, war die spezielle Form in der Abfolge der einzelnen Bauteile an die Person Karls d. Großen gebunden, der verschiedene Vorbilder, wie schon am Zentralbau der Palastkapelle, seinen Vorstellungen entsprechend kombinierte. Als früheste erhaltene Dreiturmanlage an einem Kirchenbau wird der Nischenturm zu einem imperialen Symbol einer Triumpharchitektur. Das Hoheitsmotiv der Exedra bzw. Konche ist mit dem des Torturms verbunden. Bei Anwesenheit des Kaisers am Thron auf der Empore bezeichnet der Bogen der Nische den Ort des Kaisers im Inneren.
298 DIE KAROLINGISCHE WESTANLAGE
1) E. LEHMANN (1965): Die Architektur zur Zeit Karls d. Gr., in: Karolingische Kunst (= Karl d. Gr.) III, Düsseldorf 1965, S. 301f
2) S. M. CROSBY (1953): L'abbaye royale de Saint-Denis, Paris 1953
3) J. FORMIGE (1960): L'abbaye royale de Saint-Denis, Recherches nouvelles, Paris 1960, S. 39ff
4) Zur Definition der Zentral-, Quer- und Vollwestwerke vgl.: A. FUCHS (1929): Die karolingischen Westwerke und andere Fragen der karolingischen Kunst, Paderborn 1929, S. 51ff
5) F. NOLTEN (1818): Archäologische Beschreibungen der Münster oder Krönungskirche in Aachen, nebst einem Versuch über die Lage des Pallastes Karls d. Gr. daselbst, Aachen 1818
6) F. KREUSCH (1965): Kirche, Atrium und Portikus der Aachener Pfalz, in: Karolingische Kunst (= Karl d. Gr.) III, Düsseldorf 1965, S.463ff
2997) H. VETTERS (1970): Vom Tribunal zum Westwerk, in: Adriatica, Praehistorica et Antiqua, Gregorio Novak dicta, Zagreb 1970, S. 467ff
8) F. KREUSCH (1965): Rekonstruktion Abb. 1 und 13
9) F. KREUSCH (1965): S. 481
10) J. BUCHKREMER (1947): Untersuchungen zum karolingischen Bau der Aachener Pfalzkapelle, in: Zschr. f. Kunstwissenschaft Bd. 1, 1947, S. 15
11) F. KREUSCH (1965): S. 489ff
12) F. KREUSCH (1965): S. 505f
13) H. BEUMANN (1967): Grab und Thron Karls d. Gr. in Aachen, in: Karolingische Kunst (= Karl d. Gr.) IV, Düsseldorf 1967, S. 35f
14) E. LEHMANN (1965): S. 308
15) G. BANDMANN (1965): Die Vorbilder der Aachener Pfalzkapelle, in: Karolingische Kunst (= Karl d. Gr.) III, Düsseldorf 1965, S. 424ff
16) G. BANDMANN (1965): S. 439ff
17) F. KREUSCH (1965):S. 506
18) F. KREUSCH (1965): S. 511 (Zitat). E. DYGGVE (1940): Basilica Discoperta, in: Atti del IV Congresso internazionale di Archeologia Cristiana, Rom 1940, S. 415ff
19) G. BANDMANN (1951): Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951, S. 107ff G. BANDMANN (1965): S. 455f
20) Z. B. die Skene Frons in Orange (Frankreich).
21) F. KRISCHEN (1933): Die Landmauer von Konstantinopel, Teil I, 1933, S. 14
22) G. BANDMANN (1965): S. 456
23) E. B. SMITH (1956): Architectural Symbolism of Imperial Rome and the Middle Ages, Princeton 1956
24) So z. B.: G. BANDMANN (1965): S. 456
25) H. VETTERS (1970): s. Anm. 7)
26) H. VETTERS (1970): S. 467f
27) H. VETTERS (1970): S. 468f
28) H. VETTERS (1970)_: S. 470ff
29) H. VETTERS (1970): S. 473 und S. 478
30) H. VETTERS (1970): S. 478f
30031) P. E. SCHRAMM (1954): Herrschaftszeichen und Staatssymbolik Bd. 1, Stuttgart 1954, S. 345f; H. BEUMANN (1967): S. 35f
32) H. VETTERS (1970): S. 478
33) F. BEHN (1934): Die karolingische Klosterkirche von Lorsch an der Bergstraße, Berlin - Leipzig 1934, S. 32ff
34) K. J. MINST (1949): Das Königskloster zu Lorsch, sein Entstehen, Bestehen und Vergehen, Mannheim 1949
35) H. WALBE (1950): Das Kloster Lorsch, Heppenheim 1950
36) H. VETTERS (1970): S. 482, Abb. 9 nach F. BEHN (1934)
37) F. BEHN (1934): Parallelen, S. 40ff
38) G. BINDING (1977): Die karolingische Königshalle, in: Die Abtei Lorsch, Festschr. II. Teil, Darmstadt 1977, S. 273ff
39) K. J. MINST (1949): S. 50ff, S. 85, S. 122ff
H. WALBE (1950): S. 1 - 24
W. SELZER (1955): Das karolingische Reichskloster Lorsch, Kassel - Basel 1955, chronologische Gegenüberstellung S. 18 - 21
40) St. Gallen, vgl. F. OSWALD et al. (1966): S. 295. Zum Westabschluß: N. STACHURA (1980): Der Plan von St. Gallen. Der Westabschluß der Klosterkirche und seine Varianten, in: Architectura 10, 1980, S. 33ff
41) Vgl. W. MEYER-BARKHAUSEN (1958): S. 30
42) F. SCHWÄBL (1919): Die vorkarolingische Basilika St. Emmeram in Regensburg, Regensburg 1919, S. 12ff
F. BEHN (1934): S. 41
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