Westturmanlage - Karolingische Torkapellen und Westoratorien

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47 DIE KAROLINGISCHE WESTANLAGE - Karolingische Torkapellen und Westoratorien

Neben den beiden Möglichkeiten der monumentalen Westbaulösungen der Aachener Pfalzkapelle (Dreiturmanlage) und den Westwerken (Centula und Corvey) hat G. WEISE (1916) 68) ausgehend von der Kirche am Petersberg bei Fulda,eine Gruppe von Westbautypen im mittelrheinischen Gebiet erschlossen, welche   Taf.15 durch einen Westbau mit Durchgangshalle und darüberliegender Kapelle charakterisiert wird. Während die Westanlage von Aachen mit jenem Teil der Empore, wo sich der Thron Karlsd. Gr. befindet, in unmittelbarer Verbindung steht und die Vollwestwerke gleichsam eine an die Klosterkirche angeschobene Umformung des gesamten Aachener Zentralbaus mit betürmter Fassade darstellen, birgt bei dieser Gruppe der turmartig überhöhte Westteil einen gegen das Kirchenschiff mehr oder weniger abgeschlossenen liturgisch benützten Hochraum, dessen Funktion als Kapelle durch literarische Quellen nachgewiesen werden kann. Die für Aachen und die Westwerke postulierte Blickverbindung zum Hauptaltar innerhalb der Kirche ist dabei nicht im vollen Maße gegeben bzw. sekundärer Natur.

Die ehemalige Benediktinerkirche am Petersberg bei Fulda  Taf.15 wurde von G. WEISE (1916) und J. VONDERAU (1927) archäologisch untersucht und bestand demnach aus einem wahrscheinlich dreischiffigen Langhaus mit Dreizellenchorschluß und darunterliegender grundrißgleicher Krypta 69) Im Westen befindet sich ein dreiteiliger Vorbau mit mittlerer Eingangshalle in Breite des Mittelschiffs und zwei schmäleren rechteckigen Flankenbauten, deren nördlicher den Stiegenaufgang 48 zu einer Michaelskapelle beinhaltet. Der südliche Annex ist, wie der nördliche, von der Vorhalle aus betretbar. Aufgrund von Nennungen in den Fuldaer Traditionsbüchern nimmt G. WEISE (1916) als Kirchengründer den Fuldaer Abt Baugulf (779 - 802) an, während der Westbau erst unter Hrabanus Maurus (Abt von Fulda 822 - 842) angefügt wurde. 70) Die Anlage wurde 915 beim Ungarneinfall devastiert und in der Folge der Westbau um ein drittes Turmgeschoß erhöht. G. WEISE rekonstruiert das heute in einem großen Bogen zum Kirchenschiff durchbrochene Emporengeschoß als nur durch kleine Fenster geöffnete Kapelle.

Für die Kirche auf dem Frauenberg bei Fulda, 809 durch Abt Radgar geweiht, nimmt G. WEISE (1916) eine mit Petersberg vergleichbare Westanlage an, für die ebenfalls Hrabanus Maurus die Altarepigramme verfaßte und einen Michaelsaltar "in turre ecclesiae sanctae Mariae" erwähnt. 71) Über die tatsächliche Gestalt der Westanlage ist weiter nichts bekannt, doch verweist schon der Terminus "in turre" auf die Mehrgeschossigkeit.

Die Benediktinerklosterkirche von St. Alban in Mainz hatte, wie Grabungen durch E. NEEB (1908) ergaben, als Nachfolgebau einer Memorie des 5. Jhdts. und zweier Umbauter eine dreischiffige Basilika mit Dreiapsidenschluß, in der 794 Fastrada, die Gemahlin Karls d. Gr., bestattet wurde. Laut Inschrift wurde die Basilika 805 geweiht. 72) Im Westen konnten in  Taf.16 Breite des Mittelschiffs unter der Verbauung durch die Doppelturmanlage des 12. Jhdts. die Fundamente eines recht 49 eckigen Baukörpers erschlossen werden. G. WEISE (1916) bringt diese karolingischen Fundamente mit einer Nachricht in den Fuldaer Annalen in Verbindung, die davon berichten, daß bei einem Erdbeben von 858 die herabfallenden Trümmer des Kirchenwestgiebels eine zweistöckige Michaelskapelle zerstört hätten. 73) G. WEISE kommt zu dem Schluß, daß die querriegelartigen Fundamente mit dieser Kapelle über einer Vorhalle zu identifizieren seien, wobei das Bauwerk nicht über die Giebelfront hinausragte. Der archäologische Befund reicht für eine nähere Rekonstruktion der Westanlage nicht aus, jedoch ist mit der Michaelskapelle sicher ein westl. Anbau und keine freistehende Kapelle gemeint. Mit der Basilika in Seligenstadt am Main, die zwischen 830  Taf.17/1 und 834 unter Einhard und Ludwig d. Frommen begonnen worden war, bringt G. WEISE (1916) zwei Textstellen aus der Translatio et miracula SS. Marcellini et Petri in Verbindung, die auf einen weiteren Westbau der Fuldaer Typengruppe hinweisen. Zum einen gab es  dort ein "coenaculum quod supra porticum basilicae est", in dem die Reliquien des Hl. Maurius und anderer Heiliger verwahrt wurden und in dem sich ein Altar befand, zum anderen ist von einer "turricula, quae signa basilicae continebat" die Rede.

Das "coenaculum" interpretiert G. WEISE (1916) mit einer "Emporenanlage", die jedoch eine "gewisse kapellenartige Geschlossenheit des Raumes" voraussetzt. 74) Die Lage dieses Westbaus nimmt er vor der Kirchenfront an. Die Zusammenfassung der Baugeschichte und des Grabungsbefundes bei F. OSWALD et al.(1966) 75) legt jedoch nahe, daß sich 50 G. WEISEs Rekonstruktion nicht auf die Basilika beziehen dürfte, sondern eher auf den zweiten Kirchenbau in Seligenstadt, die Marien- bzw. Bartholomäuskirche. Hier befanden sich nach dem Translationsbericht bzw. nach Ansicht F.  Taf.17/2 OSWALDs die Reliquien der Hll. Marcellinus und Petrus 828 vor Überführung in die Basilika. Archäologische Untersuchungen durch G. BINDING, 0. MÜLLER und M. SCHOPP zwischen 1961 bis 1964 ergaben innerhalb der 1817 abgebrochenen romanischen Kirche mit basilikalem Grundriß eine karolingische einschiffige Chorquadratkirche mit querrechteckigem Westvorbau, an dessen Südseite ein fast quadratischer Annex nachgewiesen werden konnte. 76) Vergleicht man die Rekonstruktion G. WEISEs mit dem Grabungsbefund, so spricht sie eher für eine Identifikation des Westbaus (Vorhalle und darüberliegende Kapelle) mit der Anlage an der Pfarrkirche von Seligenstadt. Der Bericht über eine Wunderheilung in Seligenstadt verwendet den Terminus "coenaculum" synonym mit der Lagebezeichnung "superiores partes ecclesiae", wo sich das Wunder ereignet und von wo aus der Kranke Blickverbindung zum Altar innerhalb der Kirche hat. Anschließend wurde der Kranke im Triumph "in inferiores ecclesiae partes" hinabgeleitet. 77) Dies würde u. a. darauf hindeuten, daß der südl. Annex zwischen Turm (turricula) und westl. Kirchenfront den Stiegenaufgang zur Kapelle enthielt. Das dabei benützte Kommunikationssystem entspricht der Anlage am Petersberg bei Fulda, wo ebenfalls der Annex die Stiegenanlage zur Kapelle und zur Vorhalle bzw. ins Kircheninnere trägt. Gegen die Identifizierung des Coenaculums an der Basilika von Seligenstadt spricht auch, daß der Westteil dreischiffig angelegt wurde und eine kleinere Turmanlage51 mit Kapelle( wie sie der Terminus "turricula" nahelegt, unwahrscheinlich ist. Außerdem deutet die Grundrißlösung des Westteils der Basilika darauf hin, daß dieser in die Kirche einbezogen war und nicht als außenliegender Kirchenteil (superiores - inferiores ecclesiae partes) angesprochen werden kann.

Die Benediktinerklosterkirche von Steinbach (Michelstadt)  Taf.18/1 im Odenwald, ebenfalls eine zwischen 815 bis 827 durch Einhard errichtete Basilika, zeigt aufgrund der Grabungen durch F. BEHN (1931) und O. MÜLLER (1965) eine dreischiffige Pfeilerbasilika mit niedrigen Querflügeln und darunterliegender Gangkrypta. 78) Der Westbau ist durch die Fundamente eines vorspringenden quadratischen Mittelbaus, der von querrechteckigen Seitenräumen flankiert wird, charakterisiert. Baureste an der Schiffsfront belegen, daß der Westbau in Höhe der Seitenschiffe überdacht war und einen emporenartigen Einbau trug. Ein ursprünglich zeitgleich angenommenes Atrium erwies sich als spätromanisch. G. WEISE (1916) nimmt auch hier einen Westbau vom Typus Petersberg an, bemerkt aber - in Unkenntnis der späteren Grabungsergebnisse - das Fehlen der schmalen Nebenräume mit der Treppenanlage. Sieht man die beiden Annexe, hier in querrechteckiger Form ausgebildet, aus Sicht der späteren Grabungen und Baubefunde, so wird dieser Einwand hinfällig.
G. WEISE (1916) bringt diesen karolingischen Westanlagentypus mit der Dreiturmanlage von Aachen in Verbindung und meint dazu, daß die Westanlage in Aachen mit ihren seitlichen 52 Rundtürmen zwar im Maasgebiet und am Niederrhein eine reiche Nachfolge hat, nicht aber am Mittelrhein. 79) Als Ableitung hält er Vorbilder wie die Tortürme mit Erzengeloratorien am Atrium von St. Riquier in Centula und die Porta Basilicaris an der Kathedrale von Reims für möglich, für die ein "oratorium in honore sancti Michaelis archangeli" überliefert wird. 80) Weiters ist die Torhalle von Lorsch zu erwähnen.

Daß der Torturm mit darüberliegender Kapelle auf eine wesentlich ältere Tradition zurückblicken kann als die Beispiele bei G. WEISE (Aachen und Westwerke), läßt sich schon im Vergleich mit der Kirche von S. Maria in turribus am Atrium von AltSt. Peter in Rom zeigen. Die unmittelbare Verbindung des Torturmes mit der Westfassade einer Kirche erfolgte jedoch erst im 8. od. 9. Jhdt., wie das Beispiel von Monkwearmouth (St. Peter, Durham) Taf.14/2 zeigt, wo die Vorhalle mit Seitenkammern des ausgehenden 7. Jhdts. in karolingischer Zeit durch eine zweigeschossige Vorhalle überhöht wurde. Die weiteren Geschosse bzw. der Ausbau zum Turm kam erst ab dem 10. Jhdt. zustande. Ob das karolingische Obergeschoß in Monkwearmouth als Kapelle diente, ist fraglich. Vielleicht war es nur ein Bergeraum, wie dies der fehlende Stiegenaufgang nahelegt. Das Obergeschoß hatte jedoch kleine Fensteröffnungen zum Langhaus hin. 81)

Jüngere Grabungen deuten auf eine weit gestreute, aber punktuelle Verteilung von turmartigen Westvorhallen Taf.18/2 im   1. Drittel des 9. Jhdts. hin. In Oldendorf-Heiligenstetten schließt A. KAMPHAUSEN (1933) 82) aufgrund der tieferen 53 und stärkeren Fundamentierung eines westlichen querrechteckigen Vorbaus an der abgekommenen Pfarrkirche auf einen Westturm. Seitenannexe konnten nicht nachgewiesen werden. Der einschiffige Kirchenbau mit seitlichen Pastophorien gehörte wahrscheinlich zur Burg Karls d. Gr. in Esesfeld und stand mit Erzbischof Ebo von Reims in Beziehung. KAMPHAUSEN datiert ihn ins 1. V. des 9. Jhdts.

Ob in Büraberg die durch J. VONDERAU (1934) 83) ergrabenen westl. Fundamente der bischöflichen Kathedralkirche des Taf.18/4 8. Jhdts. schon einen Turm trugen, der später überbaut wurde, ist nicht sicher. Im Hinblick auf den sonst üblichen dreiteiligen Grundriß des Petersberger Typus bzw. auf das Fehlen der Annexe bei den bloß zweigeschossigen Tortürmen wird hier eher eine Vorhallenanlage zu rekonstruieren sein.

Auch das Tochterkloster von Fulda in Brunshausen bei Gandersheim zeigt teilweise noch im Aufgehenden Spuren eines quadratischen Westturmes, der ursprünglich zumindest einen südlichen Annex hatte und zum ergrabenen Grundriß eines Apsidensaals gehört. Der Bau wird mit der Aufnahme von Benediktinerinnen im 3. V. des 9. Jhdts. in Verbindung gebracht. 84)  Taf.18/3

Das Gesamtbild, welches sich aus diesen wenigen überlieferten Kirchenbauten mit Westoratorien des 9. Jhdts. ergibt, läßt sich wie folgt zusammenfassen:

1. Soweit aus den Befunden ersichtlich ist, hatten diese Kirchen keinen einfachen vorgestellten Westturm, sondern stets eine Anlage über mehrteiligem Grundriß. 54

2. In den meisten Fällen ist ein liturgisch genütztes Obergeschoß über einer Vorhalle vorhanden, u. z. nicht in Form einer offenen Empore, sondern in Form einer Kapelle mit eigenem Altar. Häufig handelt es sich um ein Michaelspatrozinium.

3. Die Westanlagen wurden zumeist an Klosterkirchen errichtet, die durch ihren Stifter od. Gönner mit dem intellektuellen Kreis Karls d. Gr. in Zusammenhang stehen.

302 68) G. WEISE (1916): Untersuchungen zur Geschichte der Architektur und Plastik im frühen Mittelalter, Leipzig - Berlin 1916, S. 49ff: Ein karolingischer Westbautypus der mittelrheinischen Gegenden

69) G. WEISE (1916): S. 78ff: Die Kirche auf dem Petersberg bei Fulda; J. VONDERAU (1927): Zum Grundriß der Krypta am Petersberg zu Fulda, in: Fuldaer Geschichtsblätter 20, 1927, S. 33ff;
D. GROSSMANN (1962): Kloster Fulda und seine Bedeutung für den frühen deutschen Kirchenbau, in: Das erste Jahrtausend, Textbd. I, Düsseldorf 1962, S. 366;
F. OSWALD et al. (1966): Vorromanische Kirchen, München 1966, S. 257f

70) G. WEISE (1916): S. 78 und S. 93

71) G. WEISE (1916): S. 99ff und Anm. 1

72) E. NEEB (1908): Zur Baugeschichte der St. Albanskirche bei Mainz, in: Mainzer Zschr. 3, 1908, S. 69ff;
F. OSWALD et al. (1966): S. 193ff

73) G. WEISE (1916): S. 100ff

74) G. WEISE (1916): S. 99ff und S. 105, Anm. 2

75) F. OSWALD et al. (1966): S. 309ff und S. 311f

76) Grabungen 1961 durch 0. Müller und G. Binding, 1964 durch 0. Müller und M. Schopp; F. OSWALD et al. (1966): S. 311

77) G. WEISE (1916): S. 99ff und S. 105f, Anm. 1

78) F. BEHN (1931): Die Einhard-Basilika zu Steinbach im Odenwald, in: Die Denkmalpflege 1931, S. 41ff;
0. MÜLLER (1965): Die Einhards-Basilika in Steinbach bei Michelstadt, Mainz 1965;
G. WEISE (1916): S. 112ff;
F. OSWALD et al. (1966): S. 320ff

79) G. WEISE (1916): S. 99ff und S. 115

80) G. WEISE (1916): S. 99ff und S. 115, S. 116, Anm. 1

81) Monkwearmouth: H. M. und J. TAYLOR (1965): Anglo Saxon Architecture, Vol. I, Cambridge 1965, S. 432ff und Abb. S. 434

82) A. KAMPHAUSEN (1933): Karolingische Kirchen in Schleswig-Holstein, in: Die Denkmalpflege 1933, S. 18ff;
E. LEHMANN (1938): Der frühe deutsche Kirchenbau, Berlin 1938, S.132;
F. OSWALD et al. (1966): S. 244f

83) J. VONDERAU (1934): Die Ausgrabungen am Büraberg bei Fritzlar 1926 bis 1931, Fulda 1934;
E. LEHMANN (1938): S. 109;
W. BÖCKELMANN (1956): Grundformen im frühkarolingischen Kirchenbau
des Östlichen Frankenreiches, in: Wallraf-Richartz-Jb. 18, 1956, S.27ff;
303F. OSWALD et al. (1966): S. 46

84) F. OSWALD et al. (1966): S. 402f

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