Westturmanlage - Sonderanlagen des zwölften Jahrhunderts
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meisten dieser Kirchen eine starke eigenkirchliche Komponente zum Ausdruck. Eine besondere Stellung nimmt Krems ein, da hier nicht die weltliche Oberschicht als Patronatsherr auftreten dürfte, sondern die Bürgerschaft.
Sonderanlagen des 12. Jahrhunderts
Neben dem Typenspektrum der "Salzburger" und der "Nieder-österreichischen Gruppe" mit integriertem Emporenturm, geschlossenem oder offenem Typus und mit der Variante des Westquerbaus, gibt es an der Pfarrkirche von Pürgg (Kat. Stmk. Nr. 3) und in Stillfried a. d. March (Kat. NÖ Nr. 17) zwei Sonderformen, die durch ihre Beziehung zum zugehörigen Kirchenbau hervorgehoben werden.
Die Pfarrkirche von Pürgg hat zuletzt W. DEUER (1982)
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untersucht und als doppelpolige Sonderanlage mit Ost- und Westturm beschrieben. Seinen Angaben nach wurde 1188 mit dem Bau einer dreischiffigen Pfeilerbasilika begonnen, die mit einem Chorturm am Ostende schloß. Am Westende erhebt
sich ein achsialer Vorhallenturm, dessen erstes ObergeTaf.56/3 schoß einen Mauerabsatz zeigt, der sich innerhalb der um Taf. 57 1300 ausgestalteten Katharinenkapelle befindet. Dies deutet darauf hin, daß der ursprüngliche Westturm im 14. Jhdt. umgebaut und erhöht wurde, wobei der romanische Innenaufbau wesentlich verändert wurde. Nach W. DEUER (1982) 70) dürfte durch eine westliche Erweiterung der Seitenschiffe um ein Joch der Turm in den Langhausbau integriert worden sein.
Taf.56/2
Die Darstellung des Stiftermodells in der Johanneskapelle am Berg gibt, bei aller Vorsicht gegenüber solchen Archi-
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tekturdarstellungen, einen westlichen Quaderbau wieder, der in seiner Höhe und Disposition an einen niedrigen Oratoriumsturm denken läßt. Entgegen W. DEUER (1982) 71) ist anzunehmen, daß bereits der erste Westbau der 80er Jahre des 12. Jhdts. im Inneren ein liturgisches Obergeschoß hatte, das als Nachfolge die veränderte Katharinenkapelle erhielt. W. DEUER (1982) 72) vergleicht diesen doppelpoligen Bau mit der Pfarrkirche von Hartberg, die er als Chorturmkirche mit vorgelegtem Westturm aus den 60er Jahren des 12. Jhdts. rekonstruiert. Wie jedoch im Katalog dargelegt, stammt der Westturm von Hartberg erst aus der Zeit um 1300 und war ursprünglich ein frei-stehender Stadtturm vor der Kirchenfront, der erst im 15. Jhdt. in die Basilika einbezogen wurde. 73) Als Vorbild für Pürgg scheidet Hartberg aus, da der Turm zu den gotischen Stadt- Taf . 55 türmen zählt, wie z. B. die Anlage bei der Villacher Stadtpfarrkirche (Kat. Ktn. Nr. 5). W. DEUER (1982) 74) sieht in Taf. 51 Pürgg und Hartberg "landesfürstliche Paradepfarren der Steiermark", wobei Hartberg als Bischofssitz eines markgräflichen Landesbistums anzusehen sei, während Pürgg bis 1192 Sitz der landesfürstlichen Pfalz war. Seiner Ansicht nach kommt in Pürgg wie in Hartberg,im Gegensatz zu den doppelpoligen Anlagen mit Gegenchor,die Westwerksfunktion als formbildender Faktor zum Ausdruck.
Die Verwendung eines Westturms anstelle eines Doppelchores betont den mehr weltlich-imperialen Aspekt im Gegensatz zum richtungsbetonten Langhausbau der Reformbestrebungen von
Cluny und Hirsau. Die zweipolige, primär äußerlich-symbolische Wirkung hat ihre Entsprechung in der Westwerksymbolik, von der aus z. B. das imperiale Bauvokabular von Speyer II (ab
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1080) bestimmt wird. In Speyer wird der Innenraum als richtungsbetont, der Außenbau als doppelpolige Turmanlage charakterisiert. 75) Weiters sieht W. DEUER (1982) 76) in den Westanlagen von Pürgg und Hartberg einen "greifbaren Verteidigungsaspekt", da der Landesfürst als Patron seine Kirche zu schützen hatte. Der Verteidigungszweck scheidet jedoch aus den bisher angeführten Erwägungen aus, außer-dem sind solche "Wehranlagen" nicht an allen landesfürstlichen Bauten nachweisbar.
Sicherlich hängt die Wahl der Westturmanlage von Pürgg und die Vieltürmigkeit mit der Hoheitssymbolik des Turmes an sich zusammen. Auch die zeitliche Einordnung und der historische Zusammenhang mit dem Bauherrn legen dies nahe. Als landesfürstliche Pfalz entstand Pürgg schon im 11. Jhdt. als Zwischenstation der Traungauer von ihren österreichischen zu den steirischen Besitzungen. Die Pfarre wurde 1130 gegründet, der Bau der Pfarrkirche erfolgte als Stiftung Herzog Otakars IV. "im Bewußtsein seines kinderlosen Todes", wie W. DEUER (1982) 77) meint. Als Seelgerätstiftung ist dieser Akt in gewissem Sinne mit der Gründung des Augustiner-Chorherrenstiftes St. Andrä a. d. Traisen zu vergleichen, wenngleich hier die Verhältnisse anders liegen. Eine wesentliche Aufwertung erhielt der Bau dadurch, daß der Stifter durch die Erhebung der Steiermark zum Herzogtum zum Landesfürsten wurde. Pürgg, somit Sitz einer herzöglichen Pfalz, erhält dadurch einen hohen zentralörtlichen Rang. Die Pfarrkirche von Pürgg zeigt die gleichen Merkmale einer landesfürstlichen Patronatskirche, wie sie schon bei den Westturmkirchen der frühen "Niederösterreichischen Gruppe"
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zu verzeichnen waren. Nach dem Aussterben der Traungauer im Jahre 1192 gelangte die Steiermark im Erbwege an die Babenberger. Damit verlor Pürgg seine Bedeutung als landesfürstliche Pfalz.
Die Pfarrkirche von Stillfried a. d. March befindet sich
gebietsmäßig noch innerhalb der "Niederösterreichischen
Taf. 26 Gruppe". Durch archäologische Untersuchungen seit 1980
konnten die Bauabfolge und der Verwendungszweck der Westanlage geklärt werden. 78) Erhalten sind der kubische
Tiefraum, welcher Ende 13./Anfang 14. Jhdt. neu einge-
Taf. 76 wölbt wurde, und ca. 1 m des aufgehenden Turmstumpfes.
Darüber befand sich wahrscheinlich ein Kapellengeschoß, das noch vor 1304 durch eine dem Hl. Michael geweihte Kapelle ersetzt wurde. Sowohl der romanische Turm als auch die schmäleren Mauern des gotischen Nachfolgerbaus über dieser Kapelle sind nicht mehr erhalten. Die hohen Proportionen des Tiefgeschosses und ein romanischer Ab-gang an der Nordseite sowie der archäologische Befund belegen, daß hier der letzte Rest eines Ossariums vor-liegt, welches mit der darüberliegenden Kapelle und dem zu rekonstruierenden Turm die Funktion von Karner und Westanlage verband, wobei die Funktion des Karners bis ins 18. Jhdt. aufrecht erhalten wurde.
Die Datierung der romanischen Anlage ergibt sich einerseits aus dem stratigraphischen Befund - der Turm schneidet den Friedhof aus der Zeit ab der Mitte des 11. Jdhts. an - und aus der Analyse der Baustruktur - die Steinbearbeitung ist typisch für das 12. Jhdt. -, andererseits
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aus den angebauten Langhausmauern der gotischen Kirche
(Ende 13./Anfang 14. Jhdt.). Zwei weitere Datierungs Taf. 75 hilfen sind ein Keramikfund, der Mitte des 12. Jhdts. angesetzt werden kann und den Mauerausrißgraben eines romanischen Choranbaus zeitlich festlegt, und die Verwendung des Untergeschosses als Ossarium, das im Zusammenhang mit der überbelegung des Friedhofes im 12. Jhdt. erbaut werden mußte. Eine nähere zeitliche Einordnung ab der Mitte des 12. Jhdts., d. h. nach einer Benützungsdauer des Friedhofes von rund drei Generationen, wäre möglich. Der Karner mit darüberliegendem Turm bildete in Stillfried immer eine bauliche Einheit mit dem nicht erhaltenen Langhaus der romanischen Kirche und stand nie, wie dies bei Karner sonst üblich, als eigenes Gebäude neben der Kirche.
Die Westanlage von Stillfried verbindet somit zwei Elemente des Kirchenbaus zu einer Einheit: den ungegliederten Westturm vom geschlossenen Typus mit Kapelle und die dem Totenkult geweihte Karneranlage. Die Sonderstellung dieser komplexen architektonischen Lösung wird dadurch hervorgehoben, daß sich weder unmittelbar vergleichbare Vorbilder nachweisen lassen, noch formale Wiederholungen finden. 79) Es läßt sich zeigen, daß dennoch gewisse all-gemeine Beziehungen zwischen der Westturmlösung von Stillfried (mit Tiefraum) und anderen Westanlagen - speziell im Pfarrkirchenbereich des 12. Jhdts. - bestehen.
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Der Karner von Stillfried diente der Sekundärbestattung von Gebeinen, die bei Überbelegung des Friedhofes während des gesamten Mittelalters den Gräbern entnommen wurden. 80) Die Kapelle über dem Ossarium spielt sowohl bei der Begräbnisliturgie als auch bei der Verehrung der Toten eine wesentliche Rolle. F. HULA (1970) 81) sieht im Karner ein Instrument des Totenkultes, das u. a. die Verehrung der s i c h t b a r aufbewahrten Gebeine ermöglicht und ideell mit dem Auferstehungsglauben, der Reliquienverehrung und dem Märtyrergrab verbunden ist. Diese Vielschichtigkeit hat ihre Entsprechung in verschiedenen Ableitungsversuchen. M. CAPRA (1926) 82) versucht die Wurzel des Karners aus einer nordischen Herkunft zu erklären und greift bis auf antike Heroa und Steinzeittumuli zu-rück. H. GLÜCK (1933) 83) hält aufgrund der Zentralbau-form der frühen Karner Grab- und Memorialbauten der Spät-antike und des Frühchristentums - vor allem solche des Ostens - für mögliche Vorbilder. E. KOLLLER-GLÜCK (1981) 84) glaubt einen Einfluß der Jerusalemer Grabeskirche nach-weisen zu können, während F. HULA (1970) 85) im Karner die Umformung römischer und frühchristlicher Mausoleen sieht. Die Herleitung der Karner bereitet, wie R. WAGNERRIEGER (1976) 86) meint, Schwierigkeiten und ist im Grunde genommen noch ungeklärt, auch fehlt es an überzeugenden Zwischengliedern, da Karner nicht vor dem 12. Jdht. nach-
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weisbar sind. Zweifellos gibt es formale Ähnlichkeiten sowohl zwischen den spätantik-frühchristlichen Grabbauten als auch zwischen den sog. Rundkirchen, die als Herrschafts- und Palastkapellen letztlich auf den Aachener Zentralbau zurückgehen dürften. 87) Für letzteren aber ist die Verwendung als Palastkapelle und Grabeskirche Karls d. Gr. belegt. 88) Herrschaftsarchitektur und Totenkult haben so gesehen im Frühmittelalter eine enge geistige Verbindung.
Faßt man die Westanlage als herrschaftliches Hoheitssymbol und laikalen Bereich auf, so greift die Grablege in einem Westturm den Brauch der Verbindung von Herrschaftsarchitektur und Totenkult auf. Ein Beispiel gibt die geplante Doppelgrablege Ludwigs d. Frommen und seiner Gemahlin Irmgard im dreiteiligen Westturm des 814/15
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gegründeten Kornelimünsters. 89) Im Hochmittelalter wird dieser Konnex aufgegeben, Herrschaftskirche, Karner und Friedhofskapelle werden baulich getrennt. Außerdem verlagert sich die Grablege des Patronatsherrn oder Stifters in den Chorbereich und das Ossarium, wenn es mit der Kirche verbunden ist, liegt unter dem Chor. Andererseits belegt die Propsteikirche von Felsöörs/Ungarn, daß noch im 13. Jhdt. auf den im wesentlichen frühmittelalterlichen Brauch der Grablege im Turm zurückgegriffen wird. 90) Hier weiht der Bischof von Veszprem 1240 einen Michaelsaltar auf der Turmempore (1), den eine gewisse Margarete aus dem Geschlecht der Osl, Frau des Comes Miske, stiftete. Durch Grabungen konnte unter der auf die Empore führenden Treppe ein repräsentatives Herrengrab freigelegt werden. 91)
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Berücksichtigt man die feudale Sozialstruktur Ungarns im 13. Jhdt. und den Umstand, daß die zahlreichen Westturmkirchen in Ungarn als Sippenklöster oder Herrschaftskirchen dem Eigenkirchenwesen näherstehen als der Patronatskirche, wird deutlich, daß in Felsöörs ein Verhältnis zwischen Klerus und weltlicher Oberschicht seinen architektonischen Ausdruck findet, das im Westen schon längst aufgegeben worden war. 92)
In Österreich konnte bisher keine Grablege in einem Westturm gefunden werden. Außerdem dient der Tiefraum von Stillfried nicht als primäre sondern sekundäre Begräbnisstätte. Eine direkte Herleitung aus der Tradition vom Turm mit Stiftergrab scheint in Stillfried ebensowenig zutreffend zu sein wie die vom einzelstehenden Karner.
Eine andere Herleitungsmöglichkeit stellen die Westkrypten in Österreich dar. In Lambach/OÖ konnte unter dem ehe-maligen Westchor mit den berühmten Läuthausfresken eine
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kreuzförmige Krypta aufgedeckt werden, die der Bauphase von 1089 angehört. 93) Die Krypta wird von den zwei Türmen der Westfassade flankiert und befindet sich zur Hälfte im Boden. Über den Tonnengewölben erhebt sich die Platt-form des Westchores. Die Rekonstruktion der Westanlage bietet vom Osten aus gesehen zunächst durch drei hohe Arkaden den Einblick in den Westchor. Vor dem Westchor kann man unter einer ins Kirchenschiff vorgeschobenen Plattform durch ein Segmentbogenfenster in die Krypta
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Diese Art der Westchoranlage mit Krypta hat ihre nächsten Verwandten in der Westanlage von St. Emmeram in Regensburg mit weit geöffnetem Chorbogen und bühnenartig vorspringen-der Plattform der Wolfgangskrypta (Mitte 11. Jhdt.), dem alten Dom in Regensburg mit Flankentürmen (um 1000) und dem Westchor des Ulrichdomes in Augsburg (995), 95)
B. ULM (1961) 96) untersuchte die Zusammenhänge zwischen dem Stifter des Westbaus von Lambach, Bischof Adalbero, und dessen Beziehungen zur Gorzer Reform und stellte fest, daß die Reform von Gorze im Gegensatz zur Reform von Cluny am alten Reichsmönchstum festhielt, was sich in Lambach auf die Beibehaltung des betonten Westteiles bzw. der Wahl einer doppelpoligen Anlage ausgewirkt hat. Die Verbindungen zu Gorze ergeben sich daraus, daß Adalbero das Kloster Lambach mit Mönchen aus Schwarzach am Main besiedelte, also mit Vertretern der Junggorzer Reform. 97)
Zeitlich zwischen Lambach und der Westanlage von Stillfried liegt die Burgkirche von Oberranna/NÖ. 98) R. K. DONIN (1951) 99) hat diese relativ kleine Anlage aufgrund
von Baukernanalysen als einschiffigen Saalraum mit öst Taf . 78 lichem und westlichem Querschiff, Vierungstürmen, einer Krypta im Westteil und einer östlichen Apsis rekonstruiert. Über der Westkrypta, einem Vierstützen-Raum, befindet sich eine in das zellenartige Querschiff reichende Plattform, die von R. K. DONIN als Chorquadrat, von F. EPPEL (1964) und R. FEUCHTMÜLLER (1964) als Westchor
100) von K. KAFKA (1970) als Westempore interpretiert wird.00)
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K. KAFKA (1970) weist darauf hin, daß der Zugang zur Krypta vom Westen aus erfolgte und ursprünglich keine Verbindung zum Kirchenschiff bestand. Der Zusammenhang von Oberranna mit Lambach ist durch die Westkrypta, der mit Stillfried durch die Abgeschlossenheit des Tiefraumes vom Kirchen-schiff gegeben.
Ein ungelöstes Problem entsteht aus der Baugeschichte und der Deutung des Raumes über der Kryptenplattform. Nach R. K. DONIN (1951) 101) wurde in Oberranna zunächst nur eine einschiffige Ostturmkirche mit den beiden seitlichen Zellen des Querhauses als Burgkapelle durch den Edlen Pilgrim von Grie und Ranna errichtet. Zwischen 1114 und 1125 gelangte die Burg vorübergehend an das Benediktinerkloster Göttweig. Die Kapelle wurde in dieser Zeit zur symmetrischen Anlage erweitert. Folgt man F. EPPEL (1964) und R. FEUCHTMÜLLER (1964) in der Interpretation des Westteiles als Chor, so müßte hier ein Altar gestanden haben.102) Nach M. SCHWARZ (1979) 103) ist jedoch ein Altar auf der zum Ostchor hin ausgerichteten Herrschaftsempore auszuschließen. Dies spricht für einen privaten Auftraggeber, der aber in gewissem Widerspruch zur Erbauungszeit unter den Göttweigern steht.
Der Erweiterungsbau von Oberranna kann als Verschmelzung von den drei Elementen Tiefgeschoß (Krypta), liturgisches Obergeschoß (Empore oder Chor) und Turmanlage (Vierungsturm) aus dem 1. V. d. 12. Jhdts. charakterisiert werden. H. WOLF (1955) 104) ordnet der Burgkirche bereits im 12. Jhdt. pfarr- liche Rechte zu, die auf den Bereich der Herrschaft be-
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schränkt blieben. R. K. DONIN (1961) 105) sieht nicht nur formale Bezüge zu Lambach, sondern verweist darauf, daß durch die Übertragung an Göttweig in Oberranna die Gorzer Reformbewegung (über Lambach - Göttweig) zum Tragen kommt.
Damit allein wird aber der aufwendige Bautypus von Oberranna mit seiner doppelpoligen Anlage nicht erklärt. Die Frage über den Zweck der Westkrypta, die ja nicht Grablege war und überdies allgemein der Reliquienverehrung dienen müßte, bleibt ebenfalls unbeantwortet. R. FEUCHTMÜLLER (1964) 106) glaubt, in den Kämpferkapitellreliefs der Krypta und dem darüberliegenden Altar im Westchor die Symbolik von Tod (Krypta, Grablege) - Gericht (Kapitelldarstellung) - Auferstehung (Meßopfer am Altar) zzu er-kennen, doch ist diese Deutung sowohl wegen des fehlenden Altars als auch wegen der nicht nachweisbaren Grablege von rein hypothetischem Charakter.
Auf einen anderen Aspekt, der direkt aus der Architektur ableitbar ist und von den Quellen her gesehen große Wahrscheinlichkeit besitzt, hat K. KUBES (1976) 107) hinge-wiesen. Der Kirchentypus entspricht im wesentlichen einer stark reduzierten Version der ottonischen Dome. Oberranna "kopiert" damit auf Burgkirchenniveau einen imperialen Architekturtypus. Dieser hohe Anspruch bei einer Kleinkirche erklärt sich vermutlich daraus, daß Pilgrim von Grie seine Güter zeitweilig dem Markgrafen Leopold III. vermachte, der das Gut seiner Schwester Gerbirg übergab, welche nach dem Tode ihres Gatten, Herzog Boriwoy von Böhmen, hier Aufenthalt nahm. 1122 bis 1125 machte Pil-
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grim von Grie die Schenkung gegen den Willen Leopolds III. rückgängig und entzog das Gut dem Markgrafen durch Schenkung an das Stift Göttweig. Nach K. KUBES (1976) fällt der Bau des Westteils in die Zeit des Aufenthaltes der babenbergischen Herzogsschwester bzw. der böhmischen Herzogswitwe. Dies dürfte den Aufwand einer westbetonten Herrschaftsarchitektur von hohem Rang erklären. Daß dabei der sonst übliche Westturmtypus der "Niederösterreichischen Gruppe" über der Vierung zu liegen kam, mag mit dem anderen Kirchentypus und der baulichen Verbindung zur Burg zusammen-hängen.
Ein weiteres Beispiel einer Westkrypta, die stilistisch ähnliche Kapitelle wie in Oberranna zeigt, ist an der Pfarrkirche von St. Pantaleon bei Amstetten verwirklicht.108)
Auch in der Kapelle der Schallaburg befindet sich ein Tiefraum aus der gleichen Zeit. 109) Aber beide Bauten sind turmlos. Stillfried steht daher mit seiner Westanlage und dem nicht vom Langhaus aus zugänglichen Ossarium formal der Burgkirche von Oberranna am nächsten, wobei die Krypta und der Westchor oder die Westempore durch einen Karner ersetzt werden. Das verbindende Element zwischen Krypta und Karner ist trotz unterschiedlicher Funktionen der Totenkult im weiteren Sinne. Wie eingangs erwähnt, kann man die sichtbare Aufstellung der Gebeine im Karner mit der Repräsentation von Reliquien vergleichen, welche in Krypten vor der Aufstellung der Reliquienschreine in der Kirche der Verehrung zugänglich waren. Durch die Überhöhung des Karners in Stillfried mit einem Turm wird ein quasi doppelpoliger Akzent zwischen zwei sonst getrennten Kir-
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chenelementen (Pfarrkirche und Karner) gesetzt.
Um die Erforschung der urkundlich gesicherten besitz-, kirchen- und ortsgeschichtlichen Verhältnisse Stillfrieds im Mittelalter bemühten sich bereits F. SCHWEICKHARDT V. SICKINGEN (1833), R. STILLFRIED V. RATTONITZ (1870) und R. BÖHMKER (1924)11B erregionale Beziehungen, vor allem aber die zentralörtliche Funktion des Ortes, wurden von M. MITTERAUER (1973) und P. CSENDES (1973, 1976, 1978) untersucht und hervorgehoben. 111) Über die Stellung Stillfrieds als Mutterpfarre und ihre Inkorporation nach Mauerbach liegen Untersuchungen von TH. WIEDEMANN (1873, 1874) und H. WOLF (1955) vor. 112) Wesentliche Ergebnisse über die Siedlung und den Hausberg von Stillfried erbringen seit 1969 die systematischen Forschungsgrabungen durch F. FELGENHAUER, die baugeschichtlichen Befundungen der Kirche laufen - mit Unterbrechungen - seit 1980. 113) Durch R. BÜTTNER (1982) wurden zuletzt die bisherigen Forschungsergebnisse bezüglich der Geschichte zusammengefaßt, G. und W. ANTL (1982) übernehmen für die Kirche den Forschungsstand von 1924. 114)
Als Gesamtbild zeigt sich, daß der Ort Stillfried bereits 1045 als "villa Stilevrida" genannt wird und Zentralort der sog. Ungarnmark war. Die Gründung dürfte auf den Vorgänger des Markgrafen Siegfried, Markgraf Luitpold (= Vater Leopolds II.), zurückgehen. Nach dem Tode Siegfrieds und dem Zerfall der Ungarnmark wurde Stillfried in der Folge landesfürstlicher Besitz der Babenberger. 115) 1178 wird der Ort beim Verkauf eines Weingartens an Klosterneuburg
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urkundlich erwähnt. Der Weingarten war im Besitze Friedrichs v. Perge, welcher über die erste Ehe Leopolds III. mit dem Babenbergerverschwägert war. Von der Kirche in Stillfried existiert erst 1254/60 eine Urkunde, nach R. BÜTTNER (1982) eine Fälschung auf 1241, in welcher der Bischof von Passau die Feststellung beansprucht, daß die Pfarrkirche von Stillfried ein passauisches Lehen des Landesfürsten sei. 116) Noch im 14. Jhdt. war die Kirche im Besitz des Landesfürsten, da sie 1325 vom Habsburger Friedrich d. Schönen als Ausstattungsgut für seine neugegründete Kartause in Mauerbach gewidmet wird. 117) Eigenartigerweise wird Stillfried nicht in den landesfürstlichen Urbaren genannt, was R. BÜTTNER (1982) damit erklärt, daß kein Grund zur Aufzeichnung von nicht verliehenem Gut vorgelegen sei.118) Einen gewissen Anhaltspunkt über die Beziehungen Stillfrieds zu Passau gibt vielleicht die erste Namensnennung
des Pfarrers Siboto (gest. 1304) auf einem mittelalterlichen Grabstein. Der Name Siboto tritt im Mittelalter häufig im salzburgisch-bayerischen Raum auf, so z. B. in der passauischen Pfarre von Aspach (1254) oder bei den Ministerialen von St. Peter in Salzburg. 119)
Für die zentralörtliche Funktion Stillfrieds ist neben der Nennung des Ortes in der Aachener Schenkungsurkunde Heinrichs III. an Markgraf Siegfried, der Lage an einem prähistorischen Verkehrsweg - der Bernsteinstraße - und innerhalb einer seit der Urnenfelderrzeit bestehenden Wallanlage die Tatsache von Bedeutung, daß, wie H. WOLF (1955) aus der Art der Entwicklung des Pfarrnetzes vermutete und
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wie durch den archäologischen Nachweis des ältesten Friedhofs bestätigt wurde, Stillfried Sitz einer bedeutenden Urpfarre der Ungarnmark war. 120)
Am Wallplateau von Stillfried konnte weiters ein Hausberg, d. h. ein befestigter Herrensitz, archäologisch befundet werden. 1188 wird nach R. BÖHMKER (1924) ein Hirzo de Stilfrit genannt, nach F. SCHWEICKHARDT V. SICKINGEN (1833)
soll in der gleichen Zeit Hadmar v. Kuenring Besitzer Stillfrieds gewesen sein. 121) 1280 nennt eine Urkunde einen Chunradus v. Stillfrid. Die Burg selbst soll nach R. BÜTTNER (1982) im 15. Jhdt. zerstört worden sein, doch dürf-
te hier eine Verwechslung mit dem Hausberg von Gaislberg oder Grub bei Horn vorliegen. 122) Den Nennungen eines Herrensitzes in Stillfried ab dem ausgehenden 12. Jhdt. steht die vorläufige Analyse des Fundmaterials vom Hausberg entgegen. Die Keramik spricht für einen kurzen Bestand der Anlage zwischen 1200 und dem beginnenden 4. V. d. 13. Jhdts. 123) Dies bedeutet, daß der Hausberg als Herrensitz wahrscheinlich schon nach der Schlacht von Jedenspeigen (1278) verödete. Ob neben der Funktion Stillfrieds als Zentralort und Sitz der Urpfarre auch die Herren von Stillfried eine Rolle spielten, bleibt vorerst ungeklärt.
Die historischen Zusammenhänge und die regionale Rangstellung Stillfrieds deuten darauf hin, daß auch die Kirche von Stillfried mit ihrer westlichen Sonderanlage im gleichen Umfeld der Babenberger entstand, wie die
frühen Westturmkirchen der "Niederösterreichischen Gruppe".
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Daß Pfarrkirche und Ort nach dem 13. Jhdt. bis zum heutigen Tag ständig an Bedeutung verloren, hat nach P. CSENDES (1978) mit den territorialen Bestrebungen der Kuenringer zu tun, die mit Zistersdorf eine Konkurrenzsiedlung aus-bauten, welche sehr rasch zum Zentralort des Stillfrieder Raumes aufstieg. 124)
Wie sich an den beiden Sonderanlagen von Pürgg und Stillfried zeigen ließ, und wie dies auch für Oberranna zutreffend sein dürfte, kann ein Zusammenhang zwischen der architektonischen Form der Westanlage und dem Bauherrn oder Patronatsherrn hergestellt werden, der erkennen läßt, daß die meisten Westturmkirchen des 12. Jhdts. außerhalb der "Salzburger Gruppe" in den Umkreis von (landesfürstlicher) Herrschaft und Zentralort zu stellen sind.
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