Zum Stand der Bauforschungen an St. Stephan
Zum Stand der Bauforschungen an St. Stephan
Aus: Der Dom, Mitteilungsblatt des Wiener Domerhaltungsvereines, Heft 1, 1994, S. 1ff. [Gesamtindex]
Die Erforschung der Baugeschichte der Westanlage von St. Stephan gehört zu den großen Desideraten der Kunstgeschichte, denn an dieser monumentalen Eingangsfront der Dom- und Metropolitankirche blieb uns ein Denkmal erhalten, das in kunst- und kulturhistorischer Hinsicht von internationaler Bedeutung ist. Über die Genese der im wesentlichen von der 2. Hälfte des 12. bis ins 1. Viertel des 16. Jahrhunderts durch Um- und Zubauten errichteten Doppelturmfassade berichten - wie bei so vielen mittelalterlichen Kirchenbauten - nur wenige historische Quellen, sodaß es diffiziler geistes- und naturwissenschaftlicher Methoden bedarf, die einzelnen Bauphasen des gewachsenen Bestandes zu differenzieren und darzustellen.
Wie schon 1992 in der 1. Folge dieses Mitteilungsblattes Generalkonservator Univ.-Doz. Dr. Ernst Bacher angekündigt hat, wurden 1992 und 1993 die bauhistorischen Untersuchungen an der Außenfassade des Westteils von St. Stephan in Angriff genommen. Die ausführliche wissenschaftliche Darstellung der bisherigen Ergebnisse dieser Arbeitsetappe am Dom erfolgt in der Österreichischen Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege (Heft 3/4, 1993).
Bei den Bauuntersuchungen von 1992/93 waren zwei Faktoren zu berücksichtigen. Einerseits hat sich die mittelalterliche Bausubstanz der Westfassade von St. Stephan nicht unverändert erhalten, sodaß insbesondere im 19. Jahrhundert umfangreiche Restaurierungsmaßnahmen vorgenommen werden mußten, die nicht bloß konservierend bzw. ergänzend durchgeführt wurden, sondern teilweise - der Epoche entsprechend - stilkorrigierende Eingriffe im Sinne von Neuschöpfungen darstellen. Sie besitzen ihrerseits heute bereits wieder historischen Denkmalwert. Andererseits sollte man sich bewußt werden, daß die Bauforschung am Dom auf eine rund 150jährige Tradition zurückblicken kann, deren Ergebnisse und Forschungshypothesen bei den Untersuchungen von 1992/93 überprüft und miteinbezogen werden müssen. Sie sind für das Verständnis der kunstgeschichtlichen Problematik von Bedeutung und seien in ihren wichtigsten Punkten kurz erwähnt.
Die ältere Geschichte der Bauforschung und der Restaurierungen bis in die Zeit kurz nach 1900 wird uns vor allem durch die Publikationen von Franz Xaver Kleindienst, Wilhelm Anton Neumann und die Tätigkeitsberichte der Dombaumeister im Wiener Dombauvereins-Blatt überliefert. Den Beginn der systematischen Bauforschungen bilden die Untersuchungen des Riesentores durch Eduard Melly, die er 1846 mit einer ausführlichen Beschreibung der farblichen Fassung des Portales veröffentlichte. 1852 setzte die kontinuierliche Restaurierung des gesamten Baubestandes ein, der 1858 eine Gesamtuntersuchung des Domes durch Leopold Ernst (Dombaumeister 1858-1862) folgte. Sie beschränkte sich allerdings lediglich auf die Feststellung von Bauschäden.
Den größten Fortschritt in der älteren Bauforschung brachten die Beobachtungen Friedrich von Schmidts (Dombaumeister 1863ó1891), dem nicht nur die Entdeckung romanischer Rundfenster auf der Orgelempore zu verdanken ist, sondern auch eine erste fundierte Differenzierung des Baugefüges in drei Phasen, die - von den absoluten Datierungen abgesehen - im wesentlichen bis 1945 bestimmend blieb. Gleiches galt für seine Rekonstruktion der beiden romanischen Vorgängerbauten von St. Stephan, die erst durch die Grabungen nach dem Dombrand von 1945 widerlegt werden konnte. Den Kernpunkt seines Interesses an der Westfassade bildete das Projekt der Ñstilgerechten Zurückführung des Domportalesì, die auf die Entfernung der kurzen Vorhalle mit dem Spitzbogen, die er für einen gotischen Zubau hielt, abzielte. Die Diskussion dieser ÑRiesentorfrageì bewirkte eingehende Bauforschungen am Westportal durch Paul Müller (1883), Heinrich Swoboda (1902 und 1903) und Joseph Mantuani (1903), welche zwar richtig die Mehrphasigkeit des Baus erkannten, chronologisch allerdings zu kontroversiellen Ergebnissen kamen.
Die jüngere Bauforschung beginnt unmittelbar nach dem katastrophalen Dombrand von 1945 und den damit verbundenen Wiederherstellungsarbeiten. Karl Oettinger und Alois Kieslinger konnten durch Notgrabungen im nördlichen Langhaus, im Chorbereich und in den Untergeschossen der Heidentürme die tatsächliche Gestalt des Erstbaus von 1137/47 und seines spätromanischen Nachfolgebaus aus dem 13. Jahrhundert absichern. Für die Westan- lage überraschend war die Entdeckung von Würfelkonsolen im Gewölbebereich der Heidenturm-Untergeschosse durch Kieslinger, die aus stilistischen Gründen noch dem Erstbau zuzurechnen sind. Damit war gesichert, daß das Kernmauerwerk der Westtürme aus dem 12. Jahrhundert stammt. Die Fassade zeigt jedoch ausschließlich Formen des Zweitbaus aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts, sodaß Joseph Zykan (1964) annahm, die Fassade wäre in dieser Zeit ummantelt bzw. in den oberen Partien zur Gänze erneuert worden.
Einen völlig neuen Ansatz zur Beurteilung der Baugeschichte des Riesentores bildeten die eingehenden Untersuchungen und stilistischen Analysen Erika Doberers (1967), welche erkannte, daß wesentliche Teile der plastischen Instrumentierung des Riesentores einer romanisierenden Umgestaltung der Zeit um 1500 zuzuschreiben sind. Auch den gesamten Vorhallenbau schrieb Doberer diesem ÑHistorismusì zu.
Durch Grabungen im Zuge einer statischen Befundung anläßlich des U-Bahnbaus im Jahre 1970 wurde der Fundamentbereich der Westfassade teilweise untersucht, die Ergebnisse konnten jedoch erst 1980 und 1990 durch Ortolf Harl publiziert werden. Joseph Zykan veröffentlichte allerdings schon 1972 ein Teilergebnis, das darauf schließen ließ, daß die Vorhalle auf die Fundamente des Erstbaus Bezug nimmt und somit einen Vorgängerbau voraussetzt.
In der zweiten Publikation über die Grabungen von 1970 durch Ortolf Harl (1990) sprach dieser die Vermutung aus, daß vielleicht die gesamte Fassadengestaltung und insbesondere die Giebel am Übergang von den quadratischen Heidentürmen zu den oktogonalen Turmaufsätzen jener von Erika Doberer am Riesentor festgestellten romanisierenden Phase aus der Zeit um 1500 angehören könnten. Diese Ansicht wurde in überzeugender Weise aus baugeschichtlichen und stilistischen Gründen durch Marlene Zykan (1990) in einem Aufsatz zur aktuellen Problematik widerlegt, sodaß als Ausgangspunkt für die Bauuntersuchungen von 1992/93 der von Marlene Zykan in ihrer ausführlichen Monographie zum Stephansdom (1981) dargelegte Forschungsstand zugrunde gelegt werden konnte.
Aufgrund eingehender Analysen des Holzschnitts im Heilthumbuch (1502), des Kupferstichs von Carl Schütz (1792) und älterer Photographien (A. Groll, 1866; vor 1880; um 1894) sowie der Tätigkeitsberichte der Dombaumeister und der petrographischen bzw. bauanalytischen Untersuchungen von 1992/93 ergaben sich die folgenden Befunde:
Der Riesentorvorbau besteht - mit Ausnahme der Stephanusfigur in der linken oberen Nische, einiger Flickstellen am Portalfries und der Stabwerkkapitelle bzw. der Sockel - aus dem gleichen Steinmaterial wie die romanischen Quader der Westfassade. Im Bereich über dem Portalfries bindet der Vorbau in die Lisenen der Fassade ein, woraus sich ergibt, daß die Vorhalle gleichzeitig mit den oberen Fassadenteilen im 13. Jahrhundert errichtet und vor der Mitte des 15. Jahrhunderts wegen des Einbaus des großen gotischen Westfensters um ca. zwei Quaderlagen abgesenkt wurde. Auch der Spitzbogen besteht aus dem romanischen Werkstein, lediglich der Birnstab mußte unter Friedrich von Schmidt erneuert werden.
Die gesamte Sockelzone einschließlich des umlaufenden Wulstprofils und der Lisenenbasen mit ihrer fällend geschwungenen Eckzier wurde ab 1897 durch Julius Hermann (Dombaumeister 1891-1908) erneuert. Vorher hatte diese Sockelzone nur einen halbkreisförmigen Wulst ohne Eckzier, wie er im Original an der Westwand der Eligiuskapelle im südlichen Seitenschiff seit der Freilegung durch Friedrich von Schmidt heute noch zu sehen ist. Die ursprüngliche Lisenengliederung zeigte demnach vor dieser Restaurierung im Sockelbereich Formen, die stilistisch ebenfalls dem Erstbau zuzuordnen sind. Das Gliederungskonzept der Westfassade stammt daher aus dem 12. Jahrhundert und wurde in den oberen Fassadenteilen im 13. Jahrhundert übernommen. Durch einen Planwechsel bei der Errichtung der Westempore im 13. Jahrhundert ergab sich wegen der spätromanischen Rundfenster die Notwendigkeit, das ältere Gliederungssystem mit den Mittellisenen aufzugeben, sodaß sie heute abrupt unter den Fenstern enden. Die scheinbar aus dem 13. Jahrhundert stammende Sockelzone ist somit eine historisierende Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts.
Die beiden gotischen Westkapellen wurden abschnittsweise aus romanischen Abbruchquadern, teilweise aus dem für die Bauetappe des 14. Jahrhunderts typischen Gestein errichtet, was auf eine wechselseitige Beziehung zwischen der Abtragung des romanischen Baus und der gotischen Erweiterung schließen läßt. In den Bauteilen des 15. Jahrhunderts (oberste Teile der Westwand) findet sich kaum romanisches Abbruchmaterial.
Die oktogonalen Turmaufsätze entstanden sowohl den stilistischen Formen nach als auch vom Material her gesehen im 13. Jahrhundert, während die Steinverkleidung der Turmhelme mit den Maßwerkgalerien formal dem 15. Jahrhundert angehören. Substantiell wurden sie unter Friedrich von Schmidt und zuletzt unter Julius Hermann zur Gänze erneuert. Der innere Aufbau der Helme besteht aus Ziegeln, die außen unter der gotischen Steinverkleidung bunt glasiert sind. Eine Störungszone im Bereich des letzten niedrigen Geschosses am südlichen Heidenturm läßt darauf schließen, daß diese Ziegelhelme nach dem Brand von 1258 kurzfristig errichtet wurden und so bis Mitte des 15. Jahrhunderts das Erscheinungsbild der Westfassade prägten.
Abschließend sei erwähnt, daß für das Jahr 1994 die Fortsetzung der Untersuchungen im Inneren der Westanlage geplant ist. Damit wird der Bauforschung die Möglichkeit gegeben, einen weiteren Einblick in das durch Überbauungen und Erweite rungen komplex verschachtelte Gesamtgefüge des ÑWestwerksì von St. Stephan zu gewinnen.
Dr. phil. Rudolf Koch,
Mitarbeiter der Kommission für Kunstgeschichte
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
am Bauforschungsprojekt St. Stephan
Abbildungen
Titelblatt mit dem Kupferstich von Carl Schütz, 1792
Älteste Domdarstellung von Nordwesten aus dem Heilthumbuch von 1502. Man beachte das Fehlen der erst später errichteten Bischofstor-Vorhalle und den noch niedrigeren Nordturm mit Baukran!
Eine der ältesten Fotographien der Westfassade von A. Groll, 1866.Zustand vor den Restaurierungen des 19. Jahrhunderts. So fehlen etwa noch die Fialen auf den Galerien der Heidenturmhelme.
Riesentor mit Rokkokogitter, vor 1880
Riesentor vor der Restaurierung durch den Dombaumeister Julius Herrmann, um 1894
Kommentare
Kommentar veröffentlichen